Szenen wie im Krieg

Seoul. Granateneinschläge, Stromausfall, von Bergen und brennenden Häusern aufsteigende Rauchsäulen, in Todesangst fliehende Menschen. Es sind Szenen wie im Krieg. Der Beschuss einer südkoreanischen Insel im Gelben Meer durch die nordkoreanische Artillerie hat bei den Bewohnern grelles Entsetzen und Panik ausgelöst

Seoul. Granateneinschläge, Stromausfall, von Bergen und brennenden Häusern aufsteigende Rauchsäulen, in Todesangst fliehende Menschen. Es sind Szenen wie im Krieg. Der Beschuss einer südkoreanischen Insel im Gelben Meer durch die nordkoreanische Artillerie hat bei den Bewohnern grelles Entsetzen und Panik ausgelöst. "Ich dachte, der Krieg bricht aus", wird ein 57-jähriger Bewohner der Insel Yeonpyeong von der Zeitung "JoongAng Ilbo" zitiert. "Alles brennt, Häuser und Berge", schildert ein anderer im Fernsehen. "Als ich gesehen habe, was passierte, geriet ich in Panik", sagt der 71-jährige Shin Seung Won. Bilder zeigen, wie Touristen und ein Großteil der rund 1600 Inselbewohner mit Schiffen und Booten von der Insel ans Festland in Sicherheit gebracht werden. Die Angst ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Evakuierungsaktion dauerte bis in die Nacht.

Yeonpyeong liegt nur wenige Kilometer von der umstrittenen Seegrenze im Gelben Meer entfernt. Ein "Flashpoint", ein Spannungsgebiet, wie die Militärs sagen. In den vergangenen Jahren hat es dort wiederholt Seegefechte zwischen Kriegsschiffen beider Länder gegeben. Auch an der waffenstarrenden Landgrenze kommt es immer wieder zu Schusswechseln zwischen Soldaten beider Länder. Zivile Einrichtungen blieben jedoch bisher verschont, sagen Militärs. Es sei wohl das erste Mal seit dem Korea-Krieg (1950-53), dass Nordkorea zivile Ziele angegriffen habe.

Reihe von Provokationen

Zwei Marinesoldaten wurden bei dem Angriff gestern getötet, mehr als ein Dutzend Soldaten und Zivilisten verletzt. Über Opfer auf nordkoreanischer Seite war zunächst nichts bekannt, nachdem Südkorea das Feuer erwidert hatte. Südkoreas Präsident Lee Myung Bak schloss militärische Vergeltungsschläge nicht aus. Im März hatte der Angriff Nordkoreas auf das südkoreanische Kriegsschiff Cheonan, bei dem 46 Soldaten ums Leben kamen, die Spannungen zwischen den beiden Ländern verstärkt.

Der Beschuss der Insel Yeonpyeong reiht sich in eine Serie von militärischen Machtdemonstrationen Nordkoreas. Erst am Wochenende war bekannt geworden, dass Pjöngjang Anfang November einer Gruppe US-amerikanischer Atomphysikern eine moderne Anlage zur Urananreicherung vorgeführt hatte, die auch zur Herstellung von Nuklearwaffenmaterial benutzt werden könnte. Sowohl der Beschuss als auch die Präsentation der Atomanlage könnten dazu gedacht sein, Nordkoreas Verhandlungsposition gegenüber dem Ausland zu verbessern und diplomatische Zugeständnisse zu erzwingen.

Der US-Sonderbeauftragte Stephen Bosworth reist diese Woche durch die Region, um mit den anderen Teilnehmern der Sechs-Parteien-Gespräche, Südkorea, China, Japan und Russland, eine gemeinsame Strategie zu finden, wie sich Nordkorea an den Verhandlungstisch zurücklocken ließe. Noch gestern Morgen, kurz vor dem Gefecht, hatte er in Tokio erklärt, die USA würden sich durch die Urananreicherungsanlage nicht unter Druck setzen lassen. Ein Sprecher von US-Außenministerin Hillary Clinton hatte am Montag erklärt, man werde Nordkoreas "schlechtes Benehmen" nicht belohnen. "Die glauben immer wieder, dass sie nur etwas Unverschämtes oder Provokatives machen müssen, um uns zu zwingen, durch Reifen zu springen", sagte er. "Bei diesem Spiel machen wir nicht mit."

Nordkorea dürfte versuchen, sich die neuerliche Stilllegung seines Atomprogramms abhandeln zu lassen, etwa mit umfangreichen Lieferungen von Öl und Lebensmitteln oder einer Aufhebung von Sanktionen. Unklar ist, wie dringend Nordkorea auf ausländische Hilfe angewiesen ist. Das verarmte Land wurde im Herbst von schweren Überschwemmungen getroffen, die große Teile der Ernte vernichteten. Schon in vergangenen Wintern war es zu Lebensmittelknappheit gekommen.

Südkoreas Nervosität wächst

Ob Washington und Seoul an ihrer Forderung festhalten können, neue Verhandlungen erst zu eröffnen, wenn Nordkorea sein Nuklearprogramm stoppt, scheint nach dem Angriff von gestern unsicherer denn je. Denn mit der Nervosität in Südkorea steigt auch der Handlungsdruck, und die chinesische Regierung, Nordkoreas engster Verbündeter, drängt darauf, sich Pjöngjangs Forderungen gegenüber flexibler zu zeigen.

Nordkorea hatte zuletzt seine Bereitschaft zur Rückkehr zu den Atomverhandlungen gezeigt, ohne jedoch konkrete Zusagen zu machen. "Nordkorea fühlt sich ignoriert", sagt Choi Jin Wook vom Koreanischen Institut für Nationale Vereinigung in Seoul. "Ich denke, sie sind angesichts der strikten Position der südkoreanischen Regierung frustriert." Auf ihre jüngsten "freundlichen Gesten" hätten Südkorea und die USA nicht im Sinne Nordkoreas reagiert. Mit dem Angriff gestern könnte das Land seinem Frust Luft verschafft haben und Druck ausüben wollen. "Die Spannungen werden andauern."

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