Nur Beten hilft nicht: Kirchentag gibt sich politisch

Dresden. "Vor dir stehen wir, um zu singen" trällern die Jungen und Mädchen vom Chor der St.-Joseph-Gemeinde Wattenscheid. "In großer Freude und Daaaankbarkeit." Bundespräsident Christian Wulff zeigt sich dankbar für das spontane Ständchen vor seiner Dienstlimousine, lächelt und gibt Autogramme. Doch der 33

 Bundespräsident Christian Wulff und die evangelisch-lutherische Theologin Margot Käßmann begrüßen sich in Dresden.Foto: dpa

Bundespräsident Christian Wulff und die evangelisch-lutherische Theologin Margot Käßmann begrüßen sich in Dresden.Foto: dpa

Dresden. "Vor dir stehen wir, um zu singen" trällern die Jungen und Mädchen vom Chor der St.-Joseph-Gemeinde Wattenscheid. "In großer Freude und Daaaankbarkeit." Bundespräsident Christian Wulff zeigt sich dankbar für das spontane Ständchen vor seiner Dienstlimousine, lächelt und gibt Autogramme. Doch der 33. Evangelische Kirchentag in Dresden ist keine Heile-Welt-Veranstaltung, kein Lasst-uns-gemeinsam-Beten-Happening. Das größte protestantische Laientreffen, zu dem 120 000 Christen in die sächsische Hauptstadt geströmt sind, gibt sich politischer denn je.Katholik Wulff belässt es bei seinen beiden Auftritten zur Eröffnung am Mittwochabend und gestern bei einer Diskussionsrunde nicht bei warmen Worten. In ungewöhnlicher Offenheit fordert das Staatsoberhaupt die Ökumene ein. "Viele Menschen in beiden Kirchen wünschen sich, genau wie ich, mehr ökumenische Zusammenarbeit, mehr Mut, aufeinander zuzugehen, mehr gemeinsames Handeln und Beten." Zudem spricht er über Probleme bei der Integration von Zuwanderern, kritisiert gar den Iran oder die Türkei, weil die Freiheit dort eingeschränkt sei.

Die frühere Landesbischöfin von Hannover und Ex-Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, inzwischen eine Art Popstar der Protestanten, lockt 6500 Zuhörer zu einer Bibelarbeit - und prangert den Waffenhandel an.

Auch Kirchentagspräsidentin Katrin Göring-Eckhardt sieht das Christentreffen als Podium, um wichtige politische und gesellschaftliche Fragen aufzuwerfen. "Es gibt hierzulande keinen besseren Ort als die Kirchentage, um Lösungen und Alternativen offen zu diskutieren und Streit über die Grenzen unterschiedlicher Positionen hinweg auszutragen." Im Zentrum des Zeitgeschehens stehe der Kirchentag, sagt die Grünen-Politikerin und hofft, dass von ihm zum Beispiel ein Signal für eine Energiewende ausgeht.

Wie dieses aussehen soll, bleibt freilich offen. Ein Kirchentag ist kein Parteitag, er kann nichts beschließen. Resolutionen können Teilnehmer einreichen, was manche auch tun - doch schon der Weg, sie online zur Abstimmung zu stellen, ist kompliziert. Bleiben die unzähligen Veranstaltungen, Podiumsdiskussionen, Foren oder die Bibelarbeit, bei denen es um Atomkraft, aber auch um soziale Kälte, das Finanzsystem, Solidarität mit der Dritten Welt und andere Themen geht. "Beten allein hilft nicht", sagt Isa aus Berlin. "Mehr Menschen müssen was machen und sich einmischen", so das Credo der 19-Jährigen.

Als Erfolg des Kirchentages darf schon jetzt gelten, dass er Dresden begeistert. In einer Region, in der nur noch zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Menschen überhaupt einer christlichen Kirche angehören, in der viele Gottesdienste nur vom Hörensagen kennen und Kirchen verfallen, ist das alles andere als selbstverständlich. Mutig fanden manche die Entscheidung, mit dem Kirchentag nach Ostdeutschland zu gehen.

Richtig sei sie gewesen, freuen sich die Veranstalter heute. Mit 120 000 Anmeldungen gab es so viel Interesse an einem Kirchentag wie seit 16 Jahren nicht mehr. Und immerhin ein Drittel der Teilnehmer, die sich noch bis Sonntag durch die überfüllten Straßen schieben, in volle Straßenbahnen quetschen, mit Inbrunst Vorträgen oder musikalischen Darbietungen lauschen, kommen aus dem Osten.

Ist der Glauben hier also doch noch zu retten? "Ostdeutschland ist keine religionslose, gottlose Gesellschaft", sagt Kirchentags- Generalsekretärin Ellen Ueberschär. "Die Offenheit, ein Fest des Glaubens aufzunehmen, Gästen die eigene Wohnungstür zu öffnen, ist überwältigend."

Glaube hin in oder her - viele Dresdner wollen sich nicht als gute Christen, sondern vielmehr als gute Gastgeber präsentieren. Mehr als 10 000 haben privat Kirchentagsgäste aufgenommen. Zu Zehntausenden kamen auch Kirchenferne am Mittwochabend an die Elbe, um Kerzen anzuzünden und gemeinsam mit den Kirchentagsgästen zu singen.

Am Rande

Interreligiöse Harmonie beim Kirchentag: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Nikolaus Schneider, und der Großmufti von Sarajewo/Bosnien-Herzegowina, Mustafa Ceric, haben die gemeinsame Verantwortung von Christen und Muslimen sowie Andersgläubigen für Gerechtigkeit und Frieden betont. In einem mit starkem Beifall bedachten Vortrag betonte Ceric gestern in Dresden: "Es gibt keinen gerechten Krieg, aber es gibt einen gerechten Frieden. Es gibt keinen Heiligen Krieg, sondern einen Heiligen Frieden." Ceric sprach von der "Last" auf seinen Schultern angesichts von manchen Nachrichten und Bildern über den Islam in den Medien, fügte aber hinzu, er wolle sich nicht dafür entschuldigen, ein Muslim zu sein. Außerdem hob er das gemeinsame Erbe von Judentum, Christentum und Islam hervor. kna

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