Fahndung nach "Karl Müller" Experten: Kein Anlass für Entwarnung
Hannover. Es ist kuschelig warm im Raum für die Bakterienzucht des Veterinärinstituts Hannover: Bei 37 Grad rütteln Platten rund 20 Lebensmittelproben gleichmäßig hin und her. "Unser Ziel ist es, die Ehec-Bakterien zu züchten", erklärt der Mikrobiologe Martin Runge vom Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Hannover
Hannover. Es ist kuschelig warm im Raum für die Bakterienzucht des Veterinärinstituts Hannover: Bei 37 Grad rütteln Platten rund 20 Lebensmittelproben gleichmäßig hin und her. "Unser Ziel ist es, die Ehec-Bakterien zu züchten", erklärt der Mikrobiologe Martin Runge vom Niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Hannover. Die durchgerüttelten Proben mit klein geschnittenem Gemüse, Obst und Fleisch untersucht Runge dann auf den lebensgefährlichen Durchfallerreger Ehec. In drei Laboren in Niedersachsen fahnden Mikrobiologen nach dem Auslöser des Ehec-Ausbruchs in Deutschland. Seit spanische Importgurken als Infektionsträger ausgeschieden sind, stehen die Wissenschaftler vor einem Rätsel. "Wir arbeiten den Feiertag und die Wochenenden durch, um herauszufinden, wo sich der Ehec-Erreger versteckt", sagt die Mikrobiologin Heidi Kuiper. Bundesweit sind mindestens 16 Menschen bislang gestorben, hunderte liegen in Krankenhäusern - einige von ihnen kämpfen ums Überleben.Mehr als 130 Lebensmittelproben haben die Mikrobiologen bisher in den niedersächsischen Laboren getestet: alle negativ. "Wir haben noch keine heiße Spur", sagt Silke Klotzhuber vom Landesamt für Lebensmittelsicherheit. Alle Tests beruhten auf Hinweisen von Patienten. "Aber könnten Sie sich genau daran erinnern, was Sie in den letzten zehn Tagen gegessen haben?", fragt Klotzhuber. So weit könne die Infektion mit dem Ehec-Erreger zurückliegen. Neben Tomaten, Salat und Gurken haben die Mikrobiologen in Hannover schon Rindfleisch, Würstchen, Erdbeeren und Limetten untersucht. Sie stammten aus Supermärkten, von Marktständen und aus den Kühlschränken von Erkrankten. "Von jeder Probe nehmen wir 25 Gramm", erklärt Mikrobiologin Asmien Brix. Zwei Tage dauert die Analyse im Labor mindestens: "Ehec-Bakterien sind lebende Wesen, die wir hegen und pflegen müssen", meint Brix. Kurz vor dem Sterben setzten die Erreger besonders viele Giftstoffe frei, die dann mit einer Antikörperreaktion nachgewiesen werden können, dem sogenannten Elisa-Test. Zudem könnten Ehec-Kolonien in einem weiteren Test direkt eingefärbt werden - entstehe ein blau-violetter Farbklecks handele es sich um den Ehec-Erreger.
Doch ein solcher Farbklecks ist in Niedersachsen noch nicht entstanden. "Wir liegen alle auf der Lauer", meint Runge. Sobald der Ehec-Erreger in einem Lebensmittel entdeckt werde, werde er sofort nach Berlin an das Bundesinstitut für Risikobewertung geschickt.
Runges Hoffnung: "Wenn wir endlich eine erste Spur haben, kann sich alles ganz schnell ändern." Besonders sensibilisiert seien die Forscher für den Ehec-Typ O104, denn er soll die lebensgefährlichen Erkrankungen ausgelöst haben.
"Aber letztlich ist das so, als würden Sie unter vielen E.coli-Bakterien nach einem Karl Müller suchen", erklärt Kuiper. Bis die Lebensmittelprüfer jemanden gefunden haben, der so heißt und ihn auch noch als richtigen Karl Müller identifiziert hätten, könnten Tage oder Wochen vergehen.Berlin. "Kein Anlass für Entwarnung": Dieses Fazit der Ehec-Erkrankungen zog Reinhard Burger, Leiter des für Krankheitsüberwachung zuständigen Robert-Koch-Instituts (RKI) im Bundestag. "Es geht hier um schwere Erkrankungen bis hin zu Todesfällen", sagte Ministerin Ilse Aigner (CSU). Doch leider sei die Botschaft weiterhin, dass "die genaue Ursache des Geschehens noch nicht eingegrenzt werden konnte". Bei Patientenbefragungen seien Tomaten, Gurken und Blattsalate, die in Norddeutschland verzehrt wurden, "auffällig in der Schnittmenge" gewesen.
Die mit dem Durchfallerreger Ehec verunreinigten Gurken aus Spanien können nicht für die schweren Erkrankungen verantwortlich gemacht werden. Nach hunderten von Proben seien sich die Experten noch nicht einmal sicher, ob überhaupt ein Agrarprodukt für die Infektionen verantwortlich gemacht werden könne. Denn der Erreger kann auch bei Transport, Verladung und Verpackung auf die Ware gelangt sein. Andreas Samann vom Institut für Hygiene und Umwelt in Hamburg machte den Abgeordneten wenig Hoffnung, dass die Quelle des Darmkeims rasch entdeckt wird. In fast 80 Prozent aller Fälle weltweit finde man den Erreger nicht.
Für Forderungen des spanischen Bauernverbands nach Schadenersatz wegen angeblich unzutreffender Warnung vor Gemüse aus Spanien hat man beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit in Berlin kein Verständnis. Zwar sei nicht der Stamm O104:H4 gefunden worden, sagte ein Vertreter. Aber Ehec-Erreger seien entdeckt worden, und die seien meldepflichtig, ohne Wenn und Aber. dapd
"Wir arbeiten den Feiertag und die Wochenenden durch."
Mikrobiologin
Heidi Kuiper
Meinung
Behörden haben richtig gehandelt
Von SZ-RedakteurinIris Neu
Die spanische Gurke ist rehabilitiert - mancher Gemüsebauer dagegen nahezu ruiniert. Ist es nun berechtigt, gegen Wissenschaftler und Behörden als Verursacher wirtschaftlicher Schäden zu Felde zu ziehen? Ist es moralisch angebracht, ihnen eklatante Fehler und Fahrlässigkeit bei der Veröffentlichung von Untersuchungsergebnissen vorzuwerfen? Freilich stehen Forscher und Ärzte unter gewaltigem Druck. Es geht um akute Gefährdung von Menschenleben - ja, um das Risiko einer durch infizierte Nahrungsmittel ausgelösten Epidemie. Und da gilt es, jeden begründeten Verdacht zu benennen, auch wenn er sich am Ende als falsch herausstellt. Alles andere wäre fahrlässig. Der juristische Grundsatz "in dubio pro reo" (im übertragenen Sinne "im Zweifel für die Gurke") darf hier nicht gelten.
Hintergrund
Schon Jahre vor der durch Deutschland rollenden Ehec-Welle sorgten sich Experten vor dem Keim. Vor zwölf Jahren noch gab es Kritik, die Politik nehme das Problem nicht ernst genug. Der ARD-Journalist Klaus Weidmann warf der deutschen Gesundheitspolitik 1999 "verheerende Verharmlosung und Gleichgültigkeit" gegenüber dem Keim vor. Unter Federführung des Robert-Koch-Instituts sei Ehec bereits 1993 in einer Studie als in Deutschland weit verbreitet eingestuft worden. Die Situation hat sich geändert: Deutschland führte 2001 die Meldepflicht für Ehec-Erkrankungen ein. 2006 stellte die Regierung zur Erforschung der von Tieren auf Menschen übertragbaren Krankheiten (Zoonosen) 60 Millionen Euro bereit. 2009 wurde eine Forschungsplattform für Zoonosen erstellt. dpa