Gedränge in Arztpraxen wird immer größer

Berlin. In kaum einem anderen europäischen Land herrscht in den Arztpraxen ein so reger Betrieb wie in Deutschland. Patienten werden im Minutentakt durch die Sprechzimmer geschleust. Oft werden sie einbestellt. Viele suchen den Arzt aber auch aus freien Stücken auf - und das unnötig häufig. Die Zahl der Arztbesuche ist auf diese Weise auf die Rekordmarke von 18,1 pro Jahr geklettert

Berlin. In kaum einem anderen europäischen Land herrscht in den Arztpraxen ein so reger Betrieb wie in Deutschland. Patienten werden im Minutentakt durch die Sprechzimmer geschleust. Oft werden sie einbestellt. Viele suchen den Arzt aber auch aus freien Stücken auf - und das unnötig häufig. Die Zahl der Arztbesuche ist auf diese Weise auf die Rekordmarke von 18,1 pro Jahr geklettert. Weniger als die Hälfte ist in anderen EU-Ländern normal. Im Schnitt bleiben nur acht Minuten beim Mediziner. Die Arztbesuche haben trotz aller Gesundheitsreformen zugenommen - gleichwohl steht der Praxisstress auf der Reformagenda der Koalition nicht oben an. Das würde sich der Barmer GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker anders wünschen. "Wir wollen uns nicht abfinden mit der (hohen) Zahl der Arztkontakte", sagt Schlenker gestern bei der Vorstellung des neuen Arztreports seiner Kasse. Im Schnitt habe jeder Arzt 224 Patienten pro Woche in seinem Sprechzimmer. "Die Steuerungswirkung der Praxisgebühr hat abgenommen", stellte Schlenker unumwunden fest. Die Kassen, so Schlenker, würden die Gebühr am liebsten abschaffen, doch dann fehlten ihnen rund zwei Milliarden Euro. Das ist auch für die schwarz-gelbe Koalition der Punkt. Er habe bisher noch niemanden getroffen, der einen konkreten Vorschlag gemacht habe, wie die Milliarden zu ersetzen seien, sagte der gesundheitspolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Johannes Singhammer (CSU), auf Anfrage. Es bleibe allerdings ein Unbehagen, dass man beim Arztbesuch Bargeld zahlen müsse. Deshalb habe sich die Koalition verständigt, die Zahlungsweise "in ein unbürokratisches Verfahren zu überführen", wie es im Koalitionsvertrag heißt. Konkreteres steht noch nicht fest. Das ständige Rein und Raus im Sprechzimmer könnte nach Ansicht der Autoren vom Forschungsinstitut ISEG in Hannover vermindert werden, wenn die Praxisgebühr deutlich erhöht würde. Die Menschen könnten auch verpflichtet werden, immer zuerst zu ihrem Hausarzt zu gehen. Doch steckt der Fehler manchmal ganz woanders. Ein Berliner Asthmatiker zum Beispiel wurde bei einem Lungenfacharzt bei zwei Terminen zweimal durch eine mannshohe Maschine zur Messung der Lungenfunktionen geschleust. Dabei hatte sein Hausarzt diese Werte bereits gemessen. Beim anschließenden Fünf-Minuten-Gespräch riet der Mediziner zu einer aufwändigen Behandlung der zugrunde liegenden Allergien. Skeptisch geworden suchte der Mann einen anderen Spezialisten auf. Der riet von der Allergiebehandlung ab. Beispiel Schweden: Hier gehen die Menschen nur knapp dreimal pro Jahr zum Arzt. Pflegekräfte sind oft die ersten Ansprechpartner. Bei Älteren machen sie Hausbesuche, verordnen auch Medikamente und verweisen die Patienten bei Bedarf an Allgemeinärzte oder Krankenhäuser. Auch in Deutschland könnten etwa Krankenschwestern eine größere Rolle gerade bei der Versorgung älterer Menschen spielen. Das steckt jedoch noch in den Anfängen. Zwischen Kliniken und niedergelassenen Fachärzten herrscht heftige Konkurrenz um Patienten, deren Behandlung Geld bringt. Deutliche Worte fand zuletzt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Wenig Effizienz, falsche Anreize, ineffektive Konkurrenz herrsche zwischen Medizinern, Kliniken und Apothekern. Um Abhilfe zu schaffen, sollen laut den Experten Bezahlung und Standards zwischen Kliniken und Fachärzten vereinheitlicht werden. Für Praxisärzte fordern sie Pauschalen im Voraus statt immer neues Honorar bei regelmäßigen Einbestellungen. Meinung

Auf die Dosis kommt es an

Von SZ-RedakteurBernard Bernarding Keine Frage, die Deutschen haben eines der besten Gesundheitssysteme. Und sie neigen zur Gründlichkeit, auch bei der Nutzung des Systems. Verblüffend, dass sie sich auch die ärgerlichen Folgen davon gefallen lassen: Hohe Kosten, lange Wartezeiten, schnelle Abfertigung. Da die Praxisgebühr offenbar keine Lenkungswirkung zeigt, sollte dem Phänomen der "Arztrennerei" mit Aufklärung begegnet werden. Leider tragen die Mediziner selbst nur wenig dazu bei, sie sind an einer möglichst hohen Taktzahl interessiert. Dabei würde es ihre Glaubwürdigkeit stärken, wenn sie den Patienten vermitteln: Weniger kann oftmals mehr sein - es kommt auf die Dosis an. Ungeachtet dessen wäre es ein sinnvoller Beitrag, wenn sich ein Fachgremium wie der Bundesausschuss mal Gedanken über ein effizienteres System machen würde. Die Deutschen sind nicht kränker als Franzosen oder Österreicher. Vielleicht sollte man mal in Erfahrung bringen, warum sie dann dreimal häufiger den Arzt aufsuchen.

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