Experten halten Klage der Liberalen beim Lohnabstandsgebot für unbegründet

Berlin. Glaubt man Guido Westerwelle, dann ist es um das Lohnabstandsgebot im Land düster bestellt. Wer arbeite, müsse mehr in der Tasche haben als der, der nicht arbeite, wird der FDP-Chef nicht müde zu erklären. Als Paradebeispiel führt er gerne eine verheirate Kellnerin mit zwei Kindern ins Feld, die im Schnitt pro Monat 109 Euro weniger bekomme, als wenn sie Hartz IV bezöge

Berlin. Glaubt man Guido Westerwelle, dann ist es um das Lohnabstandsgebot im Land düster bestellt. Wer arbeite, müsse mehr in der Tasche haben als der, der nicht arbeite, wird der FDP-Chef nicht müde zu erklären. Als Paradebeispiel führt er gerne eine verheirate Kellnerin mit zwei Kindern ins Feld, die im Schnitt pro Monat 109 Euro weniger bekomme, als wenn sie Hartz IV bezöge. Fachleute schütteln den Kopf über solche Rechnungen. "Westerwelles Beispiel ist falsch, denn wer arbeitet, steht am Ende immer besser da, als wenn er nur Transferleistungen beziehen würde", sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit. Das im Sozialgesetzbuch XII verankerte Lohnabstandsgebot besagt, dass eine Alleinverdienerfamilie mit drei Kindern im Niedriglohnbereich inklusive Kindergeld und Wohngeld mehr zu Verfügung haben muss als ein entsprechender Haushalt, der ausschließlich von Hartz IV (inklusive durchschnittliche Mietkosten und einmalige Bedarfe) lebt. Um dieses Gebot einzuhalten, hat der Gesetzgeber Geringerverdienern einen Anspruch auf ergänzende Hartz-IV-Leistungen eingeräumt. Zu diesen sogenannten Aufstockern zählten im September 2009 knapp 1,37 Millionen Menschen. Bei den meisten von ihnen wird allerdings nicht das Arbeitseinkommen aufgestockt, sondern das Arbeitslosengeld II durch einen Minijob ergänzt. 774 232 Personen hatten neben den staatlichen Transfers noch eine geringfügige Beschäftigung.Dass sich mit Teilzeitjobs kein Lebensunterhalt sichern lässt, liegt auf der Hand. Selbst eine üppige Aufstockung durch den Staat könnte daran nichts ändern. Brisanter ist daher jene Gruppe, die einer Tätigkeit mit einer Bezahlung von über 800 Euro im Monat nachging und trotzdem ergänzendes Arbeitslosengeld II erhielt. Das betraf im September 336 651 Personen. Bei ihnen darf man annehmen, dass sie einen Vollzeitjob ausüben. Aber auch diesen Haushalten steht letztlich mehr Geld zur Verfügung als vergleichbaren Familien, die ausschließlich von Hartz IV leben. Dafür sorgen die Freibeträge beim Verdienst. Die ersten 100 Euro eines Arbeitseinkommens können Betroffene komplett behalten. Vom Lohn zwischen 101 und 800 Euro verbleiben ihnen 20 Prozent und bis 1200 Euro noch zehn Prozent.Angenommen, ein Haushalt mit reinen Hartz-IV-Bezügen käme auf 1400 Euro im Monat und ein entsprechender Haushalt durch Arbeitseinkommen nur auf 1350 Euro, dann würde dieser Betrag zunächst einmal automatisch auf 1400 Euro aufgestockt. Darüber hinaus kämen weitere 280 Euro hinzu (100 Euro plus 20 Prozent von 700 Euro plus zehn Prozent von 400 Euro). Dank Arbeitseinkommen hätte die Familie also 1680 Euro zur Verfügung, 280 Euro mehr als komplett durch Hartz IV. Das Beispiel der Kellnerin wäre also nur dann plausibel, wenn die Betroffene auf staatliche Hilfen verzichten würde. Nach einer Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gab es im Jahr 2006 immerhin etwa 1,9 Millionen Geringverdiener, die ihren Anspruch auf aufstockende Leistungen nicht wahrgenommen hatten. Westerwelle müsste also formulieren: Nur durch staatliche Hilfe bleibt das Lohnabstandsgebot bei der Kellnerin gewahrt. "Es gibt keinen konkreten Fall, bei dem das Lohnabstandgebot absolut verletzt wäre", erläuterte Helmut Rudolph vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Allerdings könne man darüber streiten, wie groß der Abstand sein müsse. Denn darüber werde im Gesetz nichts gesagt.

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