Die „schöne Rebellin“ putzt sich raus

Marseille · Durch die Ernennung von Marseille zur Europäischen Kulturhauptstadt ändert die Stadt ihr Gesicht, nicht aber den rauen Charakter. Ein bisher kaum vorhandenes, neues Kulturangebot und ambitionierte Renovierungsarbeiten machen die Stadt für die Einwohner attraktiv und möbeln ihr Image auf.

"Welche ist die am zweithäufigsten gesprochene Sprache in Marseille?" Angesichts der vielen Einwanderer aus dem Maghreb erscheint die Antwort eindeutig: Arabisch. "Nein: Französisch!" Michel bricht in ein kraftvolles Lachen aus. Geboren, aufgewachsen und geblieben in Frankreichs ältester und zweitgrößter Stadt, wo er als Chauffeur arbeitet, macht es ihm Spaß, das Image von diesem "französischen Neapel" zu karikieren.

Bei der Frage, ob er bereit wäre für eine Tour durch die verrufenen Nord-Teile, setzt Michel noch einen Scherz drauf. "Gefährliche Viertel? Die gibt es bei uns doch gar nicht!" Doch wenn in den Medien die Rede ist von Marseille, dann geht es meist um politische Korruptionsaffären und brutale Bandenkämpfe mit Kalaschnikows, die in diesem Jahr bereits sechs Todesopfer gefordert haben. Anfang Juni gingen Hunderte Einwohner auf die Straße, um einen entschlosseneren Kampf gegen die Kriminalität zu fordern. Von der lieblichen Provence erscheint diese kosmopolitische Hafenstadt weiter entfernt, als sie es geographisch gesehen tatsächlich ist.

Doch neuerdings bringt man sie mit Kunst und Kultur in Verbindung. In diesem Jahr präsentiert sich Marseille neben dem slowakischen Kosice als Europäische Kulturhauptstadt. Eine Chance, um zu zeigen, dass die "schöne Rebellin" ("la belle rebelle") mehr ist als laut und lebendig, schmutzig und anstrengend. Und Marseille hat diese Chance genutzt.

Bei monatelangen Bauarbeiten entstanden großzügige Fußgängerzonen und ein neues, strahlendes Antlitz des Hafen-Bereichs. Der renommierte Architekt Norman Foster gestaltete die dortige Esplanade mit einem futuristischen "Schattendach".

Dass es kaum Grünflächen gibt, sei Absicht, um die so eigene mediterrane Stimmung zu bewahren, erklärt Marion Fabre, Pressesprecherin im Tourismus-Büro: "Marseille ist felsig, geprägt von Mineralgestein. Die Sonne schlägt mit aller Wucht auf den hellen Beton auf." Man wollte den Charakter der Stadt nicht ändern, sondern aufwerten. Das ist gelungen.

Am Freitag wurde eines der Vorzeige-Projekte eröffnet: das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers (MUCEM). Ein ehrgeiziges Projekt, dessen hohes Budget mit 191 Millionen Euro der französische Rechnungshof zwar rügte, das aber maßgeblich dazu beitragen soll, den Nachholbedarf Marseilles an kulturellen Angeboten aufzuholen.

Erstmals widmet sich ein Museum in diesem Umfang den Kulturen des Mittelmeerraumes, rund 250 000 Objekte enthält die Sammlung. Allein die Räumlichkeiten sind herausragend: Die historische Kaserne Saint-Jean mit ihrer Kapelle aus dem zwölften Jahrhundert, ein Dokumentationszentrum, sowie das von Stararchitekt Rudy Ricciotti gestaltete spektakuläre Kernstück, ein verglaster Bau mit Panorama-Terrasse. Gemeinsam mit der Villa Méditerrannée, einem ins Meer gebauten Raum für Konferenzen und Konzerte, und dem Museum "Regards de Provence" ("Blicke der Provence"), einer ehemaligen Empfangshalle für Immigranten, ergibt das ein gelungenes Kultur-Ensemble.

Geplant war das MUCEM seit dem Jahr 2000, doch ohne die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt mitsamt neuer finanzieller Mittel hätte es sich wohl nicht realisieren lassen. Das gilt auch für das Stadterneuerungsprojekt "Euroméditerranée", bei dem an die Stelle von zerklüfteten, armseligen Vierteln im Stadtzentrum neue Büro- und Wohnflächen gesetzt werden. In Kooperation mit umliegenden Städten wie Aix-en-Provence oder Arles wird ein umfangreiches Kultur-Programm präsentiert.

Und doch erklangen zur Eröffnung im Januar dieses Jahres Unkenrufe: Gerade in der kritischen Hauptstadt Paris befürchtete man eine mediterran-chaotische Organisation und beklagte den mangelnden Enthusiasmus der Menschen, die hier nun einmal nicht für Kultur zu begeistern seien. Völlig zu Unrecht, widerspricht Peggy Corlin, Journalistin und selbst "Marseillaise". "Elitäre Kultur-Angebote kommen weniger an, aber sobald es ein großes Fest gibt, machen alle Generationen und Schichten mit!" Denn das sei der Geist von Marseille: volkstümlich, multikulturell, feierfreudig. Es ist ein bisschen wie Berlin. Marseille ist arm, aber sexy. Und letzteres seit diesem Jahr noch mehr.

Zum Thema:

Auf einen BlickDie Hafenstadt Marseille gilt als "Tor zum Maghreb", hat einen hohen Anteil von Einwanderern und ist stark von der Immigration geprägt.Mit rund 850 000 Einwohnern ist es die zweitgrößte Stadt Frankreichs.Rund 600 v. Chr. von den Griechen gegründet, handelt es sich zudem um die älteste Siedlung des Landes.Bis in die 70er Jahre war Marseille eine florierende Hafenstadt, bis die Probleme mit Kriminalität, Drogen, Verschmutzung, illegaler Einwanderung und stark zugenommenem Verkehr überhandnahmen. Innerhalb von zehn Jahren verlor Marseille ein Zehntel seiner Bevölkerung, die ins Umland oder in nahe gelegene Städte wie Aix-en-Provence auswanderten.Seit einigen Monaten gibt es eine direkte Zugverbindung von Frankfurt nach Marseille. hol

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