Der Terror kehrt zurück Moskaus Jagd auf den Staatsfeind Nummer eins bislang ohne Erfolg

Moskau. Die Attentäterinnen von Moskau wählten Ziele mit Symbolkraft. Direkt unter der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB explodiert in der U-Bahn zu Beginn des morgendlichen Berufsverkehrs die erste Bombe. Wenige Minuten Fußmarsch ist es von hier zum Kreml

Moskau. Die Attentäterinnen von Moskau wählten Ziele mit Symbolkraft. Direkt unter der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB explodiert in der U-Bahn zu Beginn des morgendlichen Berufsverkehrs die erste Bombe. Wenige Minuten Fußmarsch ist es von hier zum Kreml. Eine halbe Stunde später schockt eine zweite Detonation die Menschen in der Station Kultury, die zum Gorky Park führt, dem Vergnügungspark im Zentrum der russischen Metropole.

38 Menschen sterben bei dem Doppelanschlag, den die Regierung, aber auch wütende Passanten reflexartig militanten Gruppen aus dem Nordkaukasus zuschreiben. Kreischend und verstört rennen und stolpern die Menschen aus den U-Bahn-Schächten auf die Straßen. Mehrere Frauen brechen in Tränen aus. Sanitätsfahrzeuge rasen mit lauten Sirenen herbei. Rettungskräfte sperren die Anschlagsorte mit rot-weißen Bändern ab, damit die Schaulustigen die Hilfseinsätze nicht behindern. Mit lautem Gedröhne landen Rettungshubschrauber an den U-Bahn-Ausgängen, um die möglicherweise mehr als 60 Verletzten schnell zu versorgen. "Ich werde jemanden umbringen", schreit ein junger Mann wie von Sinnen, seine Freundin wurde bei dem Anschlag in der Nähe der Geheimdienstzentrale verletzt. "Einen Tadschiken, einen Aserbaidschaner, völlig egal, das ist doch alles dasselbe." Und bevor er von Polizisten abgeführt wird, droht er weiter: "Jetzt beginnt der Krieg."

Beim Verlassen der Station habe der ganze Wagon gewackelt, berichtet Alexandra Antonowa, Journalistin der Nachrichtenagentur Ria-Nowosti, die dem Drama als Zeugin entkam. Der Knall im Wagon hinter ihr sei so laut gewesen, dass sie erst mal gar nichts mehr gehört habe. "Niemand hat begriffen, was los war." Erst an der nächsten Station seien die Menschen angewiesen worden auszusteigen, und dann sahen alle den dicken Qualm aus dem Tunnel kriechen.

Nicht nur die russische Volksseele zürnt. Präsident Dmitri Medwedew verkündete laut russischen Agenturberichten bei einer Krisensitzung, Russland werde den Kampf gegen den Terrorismus "ohne Zögern und bis zum Ende" fortführen. Er ordnete eine Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen in den öffentlichen Transportmitteln an. Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin drohte den Verantwortlichen, sie "auszulöschen". "Ich bin mir sicher, dass die Sicherheitsorgane alles tun werden, um die Banditen zu finden und zu bestrafen", sagte Putin bei einem Besuch im sibirischen Krasnojarsk. US-Präsident Barack Obama bekundete seine Solidarität mit dem russischen Volk.

Der Verkehr auf den betroffenen Linien wurde eingestellt. Bekannt hat sich zunächst niemand zu den Anschlägen. Der Geheimdienst FSB vermutet militante Gruppen aus dem Nordkaukasus als Drahtzieher. Zwei Frauen sollen sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft Sprengstoff an den Körper gebunden und diesen in U-Bahnwagons gezündet haben. Aufnahmen von Sicherheitskameras zeigten die mutmaßlichen Attentäterinnen in Begleitung von zwei weiteren Frauen. Nach ihnen wird gefahndet.

Immerhin sechs Jahre lang hatte in Moskau relative Ruhe geherrscht. 2004 waren bei einem Anschlag ebenfalls in der U-Bahn 41 Menschen getötet und 250 weitere verletzt worden. Zwei Jahre zuvor hatten tschetschenische Rebellen das Moskauer Musical-Theater gestürmt und rund 800 Zuschauer und Schauspieler als Geiseln genommen. Drei Tage später beendeten russische Spezialeinheiten gewaltsam das Geiseldrama. 130 Menschen starben, die meisten durch den Einsatz von Giftgas bei der Befreiungsaktion.

Nach Einschätzung des auf die Beobachtung islamistischer Webseiten spezialisierte US-Unternehmens IntelCenter deutet vieles darauf hin, dass die Gruppierung Kaukasus-Emirat des tschetschenischen Rebellenchefs Doku Umarow hinter dem Doppelanschlag steckt. Umarow will im Nordkaukasus einen islamischen Staat errichten und hatte sich zu dem Anschlag auf den "Newski-Express" bekannt. Der Schnellzug war Ende November auf dem Weg von Moskau nach St. Petersburg durch eine Explosion entgleist. Dabei wurden 28 Menschen getötet. Moskau. Seit Jahren versuchen radikale Islamisten in den russischen Teilrepubliken im Nordkaukasus, die Kontrolle über die Vielvölker-Region an sich zu reißen. In den Konflikt-Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan liefern sich die in verschiedene Gruppierungen zersplitterten Rebellen schwere Kämpfe mit russischen Sicherheitskräften. Moskau will in der schwer zugänglichen Bergregion die Schaffung eines unabhängigen Kaukasus-Emirats verhindern. Der islamistische Untergrundkämpfer und selbsternannte Emir (Herrscher) Doku Umarow allerdings, der als Staatsfeind Nummer eins für die Führung in Moskau gilt, hat sich dem Kampf um eine Befreiung des Nordkaukasus vom russischen Einfluss verschworen. Er räumte aber zuletzt ein, dass für eine Mobilisierung der Kämpfer das Geld fehle. Nach russischen Regierungsangaben wurden im vergangenen Jahr 200 Rebellen getötet. Die Anschläge gelten als Antwort auf die Moskauer Anti-Terror-Politik im Nordkaukasus. Ungeachtet aller martialischen Ankündigungen scheitert Moskau seit Jahren daran, dauerhaft Ruhe in die Region zu bringen. Allein 2009 starben mehr als 1000 Menschen. dpa

Hintergrund

In Russland werden immer wieder Menschen bei Terrorakten getötet:

27. November 2009: Bei einem Anschlag auf einen Schnellzug sterben 26 Menschen.

17. August 2009: Ein Selbstmordattentäter sprengt sich in der Teilrepublik Inguschetien in die Luft. Mindestens 25 Menschen sterben.

13. Oktober 2005: Islamistische Rebellen überfallen die Stadt Naltschik. In nachfolgenden Gefechten sterben mindestens 137 Menschen.

1. September 2004: 32 Bewaffnete überfallen eine Schule in Beslan und nehmen 1100 Kinder, Eltern und Lehrer als Geiseln. 331 Opfer und 31 Terroristen sterben.

06. Februar 2004: Eine Bombe in der Moskauer U-Bahn tötet etwa 40 Fahrgäste.

24. August 2004: Sprengsätze bringen nahezu zeitgleich zwei russische Verkehrsflugzeuge im Westen Russlands zum Absturz. 90 Menschen sterben.

23. Oktober 2002: 41 Tschetschenen überfallen ein Moskauer Musicaltheater und nehmen mehr als 800 Geiseln. Nach drei Tagen stürmt die Polizei das Gebäude. 129 Geiseln sowie alle Terroristen sterben.dpa

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