Merkel und das Flüchtlingsmädchen

Berlin · Vor einem Jahr weint ein Flüchtlingskind, weil die Kanzlerin offen sagt, dass Deutschland nicht alle aufnehmen kann. Heute nennt Reem Rostock ihr Zuhause, und Merkel ist die Flüchtlingskanzlerin. Dabei hat das eine mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun.

 Vor einem Jahr: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versucht, das Flüchtlingsmädchen Reem zu trösten. Foto: Kugler/dpa

Vor einem Jahr: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versucht, das Flüchtlingsmädchen Reem zu trösten. Foto: Kugler/dpa

Foto: Kugler/dpa

So etwas hatte die Kanzlerin noch nicht erlebt. Es ist ein besonderer, ein seltener, für Politiker hochsensibler, heikler Moment: Mit einem Satz bringt Angela Merkel ein Flüchtlingsmädchen zum Weinen, vor laufender Kamera. Man sieht, wie leid das der mächtigen Frau tut und wie sie versucht, das Kind zu trösten. Doch sie kann nicht aufhalten, was dann passiert: In den sozialen Medien bricht ein Sturm aus Entrüstung, Spott und Häme los. Merkel, die Gnadenlose, Gefühllose. Das war am 15. Juli 2015. Ein Jahr danach sieht vieles besser aus. Zumindest für Reem Sawihl.

Was war passiert? Merkel war nach Rostock gefahren, um mit Schülern im Alter von 14 bis 17 Jahren über aktuelle, brennende Themen zu reden. Die Palästinenserin Reem aus dem Libanon sagt in astreinem Deutsch: "Ich möchte studieren (...). Es ist wirklich sehr unangenehm zuzusehen, wie andere das Leben genießen können und man es selber halt nicht mitgenießen kann." Und: "Ich weiß nicht, wie meine Zukunft aussieht." Damals hatte Reem nur eine vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung.

Merkel antwortet: "Das ist manchmal auch hart, Politik (...) Du bist ja ein unheimlich sympathischer Mensch, aber du weißt auch, in palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon gibt es noch Tausende und Tausende. Und wenn wir jetzt sagen: Ihr könnt alle kommen und Ihr könnt alle aus Afrika kommen (...) Das können wir auch nicht schaffen." Bei Reem fließen Tränen, Merkel will trösten. Nach außen mag das unbeholfen wirken, weil sie sagt, dass sie Reem einmal streicheln möchte.

Und wie empfand Reem das? Sie sagt heute: "Sie hat damals sehr viel Kritik dafür bekommen, dass sie mich gestreichelt hat. Aber es war sicher auch für sie aufregend und eine besondere Situation. Ich würde ihr einfach nur Danke sagen wollen. Von mir und meiner Familie, aber auch von all den Flüchtlingen, denen sie geholfen hat."

All die anderen Flüchtlinge . Etwa eine Million Menschen kam allein im vorigen Jahr nach Deutschland. Merkel wurde zur "Flüchtlingskanzlerin", öffnete Türen und Herzen - während ihre Union in eine Krise stürzte und sich Staats- und Regierungschefs der EU heftige Auseinandersetzungen lieferten. Im Fall von Reem hat sie aber nicht getan, was eine Versuchung hätte sein können: sich als Kanzlerin persönlich für das schon so gut integrierte Kind und seine Familie einzusetzen - oder es wenigstens zu versprechen. Merkel blieb in der Sache hart. Deswegen musste Reem weinen. Im Dezember wurde bekannt, dass die damals 14-Jährige von den Behörden einen sogenannten Aufenthaltstitel bekommen hat, der bis Oktober 2017 gültig ist. Nachdem das geklärt war, lud Merkel Reem ins Kanzleramt ein. Was sie nach den Osterferien miteinander besprochen haben, sagt Regierungssprecher Steffen Seibert nicht. Diesmal war das Gespräch persönlich. Keine Kameras, keine Journalisten. Bis jetzt war nicht einmal bekannt, dass es dieses weitere Treffen gegeben hat.

Manche sagen, die Begegnung mit Reem sei ein Grund für Merkels Willkommenskultur und ihr "Wir schaffen das" gewesen. Für ihre Entscheidung in der Nacht zum 5. September, in Budapest festsitzende syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Das sei konstruiert, heißt es in Merkels Umgebung. So berührend der Moment mit Reem gewesen sei - Merkel hätte sich auch ohne dieses Erlebnis später so entschieden.

Nun steht Deutschland ein langer Integrationsprozess mit seinen Flüchtlingen bevor. Dafür gilt Reem als Vorbild. Der Rostocker Oberbürgermeister Roland Methling sagt: "Reem Sawihl ist für mich das Gesicht gelungener Integration." Reem findet das selbst auch: "Ich würde sagen, wir haben jetzt eine zweite Heimat dazu bekommen. Im Libanon habe ich meine Kindheit verbracht, meine Familie und meine Wurzeln. Rostock ist jetzt unser Zuhause." Jedenfalls bis 2017.

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