Der Imbus tief im Flaschenhals

Linxia. Staatstragender als in China ist Zugfahren nirgendwo. Unentwegt schreitet eine Phalanx Uniformierter die Abteile ab: Kontrollblicke, Schlüsselklappern, Anweisungen, Dienstgang. Dann aber sind alle ganz herzlich. Zumal, wenn Kinder im Schlafwaggon sind

Linxia. Staatstragender als in China ist Zugfahren nirgendwo. Unentwegt schreitet eine Phalanx Uniformierter die Abteile ab: Kontrollblicke, Schlüsselklappern, Anweisungen, Dienstgang. Dann aber sind alle ganz herzlich. Zumal, wenn Kinder im Schlafwaggon sind. Im Handumdrehen hat Julius, unser Sohn, Personal und Mitreisende so um den Finger gewickelt, dass selbst gestandene Männer herumkaspern. Chinesen sollen berechnend sein? Solche Herzlichkeit haben wir sonst nur in arabischen Ländern erlebt.

Irgendwann - draußen ist die menschenleere Steppe zwischen Dunhuang und Lanzhou längst in Dunkelheit getaucht, drinnen die Stimmung der Chinesen der Kinder wegen reichlich aufgekratzt - wollen wir unseren mitgebrachten Wein trinken. Kein Korkenzieher weit und breit. Also die Hereindrückvariante. Erster Versuch mit Essstäbchen: zwei Zentimeter. Zweiter, inzwischen sieht der halbe Schlafwagen zu, mit einem Imbus: nach langem Kampf mit dem Schwanenflaschenhals weitere zwei. Hoch roter Kopf, Ratlosigkeit. Das emphatische Kollektiv hält Ausschau nach anderem Werkzeug, entreißt einer Schaffnerin fast den Generalschlüssel. Sie bleibt milde gestimmt. Als sie nach langer Suche triumphierend zurückkommt, in der Hand einen Mega-Schraubenzieher, ist es gerade geschafft - angefeuert von der Menge, hatte ich mich mit dem Schuh auf den Imbus im Flaschenhals gestellt. Mit uns trinken will dann keiner. Man prostet uns mit verschraubbaren Teebehältern zu, die für China so typisch sind wie Radsattelbezüge, Überwachungskameras, eulenhafte Brillen, grüne Bierflaschen und die Wischmops überall.

Von Lanzhou aus, wo wir nach 14 Stunden aus der Staatsbahn aussteigen, wollten wir per Bus weiter nach Linxia, einer drei Stunden östlich gelegenen Hochburg chinesischer Muslime. Aber man lässt uns nicht. Ausländer, heißt es, bräuchten einen chinesisch beglaubigten Versicherungsnachweis. Es gefiel den Schalterbeamtinnen sichtlich, uns abzuweisen. Also nehmen wir ein Taxi, vorbei an vom Dauerregen aufgeweichten, morastartigen Dörfern, in denen an jeder Hauswand Maisrohre lehnen. Man fragt sich, wann sie trocknen sollen.

Am anderen Morgen liegt Linxia, mit 200 000 Einwohnern eine chinesische Kleinstadt, schon unter Sonnenbeschuss. Auf dem zentralen Platz Frühsportlerkolonnen: Rückwärtsgeher, Tanzende, Tai Chi-Fechter, dazu scheppernde Musik und hupende Taxen. Drei Tage lang sehen wir keinen Ausländer. Dafür Pagoden neben Moscheen. An Fleischerhaken hängende Schafe und Schweine neben Elektroniktürmen und Mao-Konfektionsware. Muslime mit bis zum Brustbein reichenden Kinnbärten und weißen Kappen prägen das Straßenbild. Orient im tiefsten China. Linxias muslimisches Viertel zeitigt eine Handelswelt, wie sie authentischer nicht sein könnte. Scheinbar jeden Augenblick sich neu erfindend, geht dennoch eine wohltuende Ruhe von ihr aus. Auch wenn uns alle zuwinken, anstarren, anlächeln, anstaunen. Sorgte nicht dies allein für einiges Aufsehen, man nähme gerne auf einem der vor jedem Laden stehenden Schemel Platz, um dies unverfälschte Leben lange zu inhalieren. Wöchentlich berichtet unser Kollege Christoph Schreiner von seiner Weltreise - mit seiner Frau Elke Ott und den Kindern Julius (4) und Marie (6).

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