Richter über Schreckenstaten

Den Haag. Fatou Bensouda trägt eine aprikosenfarbene Tunika, mit einer Kette aus bunten Holzperlen. Ihr Haar hat sie zu unzähligen Zöpfchen geflochten. "Schließlich ist heute Freitag", sagt sie. "Freitags kleiden sich Frauen in vielen westafrikanischen Ländern so, dann gehen sie in die Moschee. Ich habe die Tradition mitgebracht, als ich 2004 nach Den Haag kam

Den Haag. Fatou Bensouda trägt eine aprikosenfarbene Tunika, mit einer Kette aus bunten Holzperlen. Ihr Haar hat sie zu unzähligen Zöpfchen geflochten. "Schließlich ist heute Freitag", sagt sie. "Freitags kleiden sich Frauen in vielen westafrikanischen Ländern so, dann gehen sie in die Moschee. Ich habe die Tradition mitgebracht, als ich 2004 nach Den Haag kam." Inzwischen ist die 51-jährige Top-Juristin zur wichtigsten Persönlichkeit am Internationalen Strafgerichtshof avanciert: Sie ist die Chefanklägerin. Diejenige, die das Heer aus Ermittlern und Staatsanwälten rund um die Welt schickt, um Beweise für Gräueltaten zu suchen: Kriegsverbrechen, Kindersoldaten, Mord, Vergewaltigung, Vertreibung. Als der Internationale Strafgerichtshof am 2. Juli 2002 seine Arbeit aufnahm, ging der Traum vieler Juristen in Erfüllung: ein unabhängiges Weltgericht, vor dem sich jeder Politiker zu verantworten hat, der gegen Menschenrechte verstößt. Zehn Jahre später hat der Hof nur ein einziges Urteil gesprochen - und ist dennoch zu einem Mahnmal geworden. "Es ist das Wichtigste, dass es ihn überhaut gibt", sagt Hans-Peter Kaul, Richter am ICC, wie die Abkürzung des englischen Namens (International Criminal Court) heißt.Im Gegensatz zu den zeitlich begrenzten Tribunalen für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien wurde der Internationale Strafgerichtshof durch einen Vertrag ins Leben gerufen, um ihm mehr Legitimität zu geben. 121 der 193 UN-Staaten sind dem so genannten Rom-Statut beigetreten. Die, die fehlen, sind das große Problem. USA, Russland, China, Israel, der Iran verweigern ihre Unterschrift. Sie wollen verhindern, dass ihre Soldaten oder Befehlshaber eines Tages in Den Haag sitzen, weil sie "im Dienste der Demokratie in einem Land für Frieden gesorgt haben", wie es Ex-US-Präsident Bill Clinton ausdrückte.

Inzwischen arbeiten rund 1000 Mitarbeiter aus 70 Nationen am ICC. Sie haben eine Datenbank aufgebaut, die an Grausamkeiten nicht zu überbieten ist, wie das Verfahren gegen den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga enthüllte. Es sollte - nach fast zehn Jahren - das erste Urteil des Hofes werden. "Jeder Gerichtshof braucht Zeit, um seine eigene Verfahrensordnung zu entwickeln", sagt Jens Diekmann, Opferanwalt am Internationalen Strafgerichtshof. Andere nennen Gründe, die fast alle mit der umstrittenen Person des ersten Chefanklägers zu tun haben: Luis Moreno-Ocampo. Unter Zeitdruck und Profilierungszwang gab er vor sechs Jahren die Order aus, das erste Verbrechen, das man beweisen könne, auch anzuklagen. Die Wahl fiel auf Lubanga. Verurteilt wurde er im März, vor allem wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten. Dass er möglicherweise viel mehr Dreck am Stecken hatte, konnte nicht ermittelt werden. Moreno-Ocampo hatte seine Ermittler zur Eile gedrängt. Das Verfahren geriet zur Farce. Zeugen änderten ihre Aussagen, der Chefankläger schaute nur selten im Gerichtssaal vorbei. Das Urteil nannten viele Beobachter dennoch "sachlich gerechtfertigt", auch wenn es viele Fragen aufwirft. Die betreffen nicht nur das Verfahren, sondern auch die Blickrichtung der Ankläger, die sich auf Afrika konzentrieren. Zwar haben die schlimmsten Kriege im letzten Jahrzehnt dort gewütet. Dennoch soll sich die Aufmerksamkeit nun auch auf andere Regionen richten. "Ich bin Chefanklägerin von allen 121 Vertragsstaaten und nicht nur von Afrika", betont Ocampo-Nachfolgerin Bensouda. Das Gericht hat einen hohen Anspruch, kann diesen aber nicht verwirklichen, weil viele Staaten es nicht anerkennen.

Viel wichtiger aber ist die Frage, welche Konsequenzen eine rechtskräftige Verurteilung für die Opfer hat. "Das wird eine Bewährungsprobe für das System", sagt Opferanwalt Diekmann. Gerade mit Blick auf die afrikanischen Staaten dürfte das Thema über die Akzeptanz des Gerichts entscheiden. Nur wenn es auch eine Wiedergutmachung für die Opfer gibt, werden die Länder die Aufarbeitung der eigenen Geschichte in die Hände des Hofes legen. Witwen ermordeter Soldaten haben alles verloren. Familien wurden ihrer Töchter beraubt. Die Frauen wurden von Schergen vergewaltigt und verstümmelt. Bisher gibt es einen viel zu kleinen Fonds, der einspringt, wenn der Verurteilte keine Entschädigung zahlen kann. Niemand wagt es, eine Aufstockung des 120-Millionen-Jahresetats zu fordern.

Insgesamt sind 15 Verfahren am Hof anhängig, 23 Haftbefehle wurden veröffentlicht. Der gesuchte sudanesische Präsident Omar al-Baschir befindet sich auf freiem Fuß. In China wurde er mit allen Ehren empfangen. Peking will vom Haager Gericht nichts wissen.

Die nüchterne Bilanz zeigt aber nicht, was die Arbeit der Anwälte, Ermittler und Richter für die Betroffenen bedeutet. Das kann nur nachvollziehen, wer sich den Darstellungen derer aussetzt, die unter den Angeklagten gelitten haben. So wie Ende Januar, als ein junger Mann gegen Thomas Lubanga aussagt. Das Opfer war damals zehn Jahre alt: "Wir mussten alle in den Kampf. Diejenigen, die früher ins Camp zurückkehrten, wurden bestraft. Sie wurden an einen Baum gefesselt und dann wurde ihnen das Gesicht verhüllt. Ein Soldat setzte sich zehn bis 15 Meter entfernt auf einen Stuhl und schoss so lange auf den Körper ein, bis nur noch das Fleisch zu sehen war." Der Zeuge sitzt hinter einem Vorhang. Seine Identität muss geheim bleiben. Er war Kindersoldat im Kongo. Als der Prozess mit dem Urteil "lebenslange Haft" für Lubanga zu Ende geht, sagt derselbe junge Mann: "Jetzt weiß ich, dass es Gerechtigkeit gibt. Und ich kann meinen Frieden finden." "Ich bin Chefanklägerin

von allen 121 Vertragsstaaten und nicht nur von Afrika."

Fatou Besouda

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort