Die Angst vor dem gläsernen Bürger

Historisch ist das Verfahren zur Massenspeicherung von Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten schon jetzt. Fast 35 000 Beschwerdeführer haben gegen das seit 2008 geltende Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt, neuer Rekord in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Heute wird in Karlsruhe mündlich verhandelt

Historisch ist das Verfahren zur Massenspeicherung von Telefon- und E-Mail-Verbindungsdaten schon jetzt. Fast 35 000 Beschwerdeführer haben gegen das seit 2008 geltende Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt, neuer Rekord in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts. Heute wird in Karlsruhe mündlich verhandelt. Die prominenteste Klägerin will lieber nicht persönlich kommen: Die FDP-Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist inzwischen Bundesjustizministerin - und müsste damit das Gesetz, das sie angreift, zugleich verteidigen. Sie hat gemeinsam mit einer Gruppe um die FDP-Kollegen Burkhard Hirsch und Gerhart Baum geklagt, mit denen sie ein in einigen Karlsruher Schlachten bewährtes Trio bildet. Daneben gibt es eine zweite Klägergruppe aus Grünen-Politikern sowie die Massenbeschwerde - von der nur einige Fälle exemplarisch verhandelt werden -, die vom Berliner Anwalt Meinhard Starostik vertreten wird. Historisch ist das Verfahren aber nicht nur, weil es fürs Guinnessbuch taugt. Der Spruch des Ersten Senats wird - so oder so - die Weichen für die Polizeiarbeit des 21. Jahrhunderts stellen. Die Frage ist: Darf der Staat aus sensiblen Daten völlig unverdächtiger Bürger einen gigantischen Datenpool anlegen, um dort auf Verbrechersuche zu gehen?Hürden für Daten-Nutzung Dass die sechsmonatige Speicherpflicht für sämtliche Telefon-, Handy- und E-Mail-Verbindungsdaten und ihre weitgehende Nutzbarkeit durch Polizei und Verfassungsschutz den Check in Karlsruhe unbeschadet übersteht, glaubt derzeit niemand. Mehrfach haben die Richter das Gesetz per Eilbeschluss vorerst eingeschränkt. Seither darf zwar gespeichert werden - ein Abruf ist aber an hohe Hürden geknüpft, zum Beispiel an die "dringende Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit der Person". Gut möglich, dass auch das für Frühjahr 2010 erwartete Urteil so aussieht: Speicherung ja, aber Nutzung durch die Sicherheitsbehörden nur unter engen Voraussetzungen. Nach diesem Muster hat Karlsruhe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von "Sicherheitsgesetzen" zurückgestutzt, vom großen Lauschangriff bis zur Online-Durchsuchung. Spannend dürfte aber die Frage werden, ob Karlsruhe es dabei belässt. Denn das Potenzial der Vorratsdatenspeicherung ist gewaltig - als effektives Ermittlungsinstrument, aber auch als Grundrechtszerstörer. Der große Irrtum, den die Befürworter der Speicherpflicht tunlichst schüren, lautet: Es gehe ja schließlich "nur" um die Verbindungsdaten, Inhalte der Gespräche und Mails würden nicht ausgewertet - der Eingriff in Grundrechte halte sich also in Grenzen. Die Stellungnahme, die der Chaos Computer Club (CCC) zum Verfahren abgegeben hat, zeichnet eindeutig ein anderes Bild: "Verbindungsdaten können aussagekräftiger als Inhaltsdaten sein, nicht zuletzt deshalb, weil sie automatisiert analysierbar sind", heißt es dort.Während die Ermittler bei der herkömmlichen Telefonüberwachung mühsam endlose Gespräche belauschen und entlegene usbekische Dialekte übersetzen müssen, lassen sich Vorratsdaten bequem computergestützt auswerten. Da geht es nicht nur um die Peinlichkeit eines Anrufs bei einer Sex-Hotline, sondern um regelrechte Blaupausen des sozialen Lebens: Häufige und lange Kommunikation bedeutet enge soziale Beziehung, eine zentrale Position im Spinnennetz der Anrufer könnte auf den Organisator einer Kundgebung hindeuten. Und wenn der monatelange Dauerkontakt zwischen zwei Mobilnummern jäh abreißt - dann ist zu vermuten, dass eine außereheliche Affäre zu Ende ging.Bald Verfolgung übers Handy? Und das ist laut CCC nur die Gegenwart. Die Zukunft heißt zum Beispiel "Live-Tracking": Löst man per Handy ein Straßenbahnticket, wird der Verkehrsbetrieb mit Hilfe der Funkzellendaten kontrollieren können, ob der Kunde auch für die ganze Strecke bezahlt hat. Technisch könnte der Fahnder damit live am Monitor verfolgen, wo der Handybesitzer gerade hinfährt. Überhaupt sind die Standortdaten, die das Handy durch den Kontakt mit den Funkzellen produziert, aus Sicht der CCC-Experten von wachsender Bedeutung: Derzeit liegt ihre Genauigkeit innerstädtisch bereits bei einigen Häuserblocks, und das Funknetz wird engmaschiger - Bewegungsprofile werden immer exakter. Ob der Erste Senat unter Vorsitz des Gerichtspräsidenten Hans-Jürgen Papier - es wird sein letztes großes Verfahren vor seinem Ausscheiden Ende Februar sein - sich zu einem kategorischen Nein zur Massenspeicherung durchringt? Verfahrensbeteiligte zweifeln daran. Denn die Speicherpflicht geht auf eine EU-Richtlinie zurück, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigt hat. Karlsruhe müsste sich also mit Luxemburg anlegen, um die staatliche Sammelwut zu stoppen. Nach dem Lissabon-Urteil vom Juli wäre das immerhin möglich - Karlsruhe hat sich dort auch bei EU-Recht eine verfassungsrechtliche Letztkontrolle vorbehalten.

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