Damit mehr Zeit für die Pflege bleibt

Berlin. Geteiltes Echo auf die neue Familienpflegezeit: Der Gesetzentwurf, den das Kabinett gestern in Berlin gebilligt hat, findet bei der Opposition und Sozialverbänden wenig Anklang. Sie werfen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU, Foto: dpa) vor, vor der Wirtschaft eingeknickt zu sein, weil es keinen Rechtsanspruch auf die Pflegezeit geben wird

Berlin. Geteiltes Echo auf die neue Familienpflegezeit: Der Gesetzentwurf, den das Kabinett gestern in Berlin gebilligt hat, findet bei der Opposition und Sozialverbänden wenig Anklang. Sie werfen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU, Foto: dpa) vor, vor der Wirtschaft eingeknickt zu sein, weil es keinen Rechtsanspruch auf die Pflegezeit geben wird. Bei den Angehörigen pflegebedürftiger Menschen kommt das Vorhaben einer Umfrage zufolge hingegen besser an. Jeder Vierte würde die Pflegezeit gern nutzen.Vorgesehen ist, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit für bis zu zwei Jahre auf bis zu 50 Prozent reduzieren können, wenn sie einen Angehörigen pflegen. Das Gesetz, das noch von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden muss, soll ab 2012 gelten. Einen Rechtsanspruch auf die Arbeitszeitreduzierung gibt es nicht. Arbeitnehmer sollen während der Pflegephase 75 Prozent ihres Bruttoeinkommens erhalten, auch wenn sie nur 50 Prozent arbeiten. Zum Ausgleich bekommen sie nach Ende der Pflegezeit zunächst ebenfalls nur 75 Prozent ihres Gehalts, arbeiten aber wieder in Vollzeit. Der Arbeitgeber beantragt eine Refinanzierung beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Nach der Pflegephase behält er einen Teil vom Lohn ein und zahlt ihn an das Bundesamt zurück.

Nach einer Umfrage, die dem "Tagesspiegel" vorliegt, stößt die Familienpflegezeit bei den Angehörigen auf Interesse. Demnach will sie jeder Vierte nutzen. Die bisherige Möglichkeit, sich bis zu einem halben Jahr unbezahlt vom Job freistellen zu lassen, finden dagegen 90 Prozent uninteressant. Fast jeder Fünfte lehnt die Familienpflegezeit indes wegen der Lohneinbußen ab.

Sozialverbände und Opposition erneuerten ihre Forderung nach einem Rechtsanspruch auf die Pflegezeit. Der Deutsche Verein (DV), in dem Kommunen und Wohlfahrtsverbände vertreten sind, der Sozialverband VdK und der Deutsche Gewerkschaftsbund sowie alle Oppositionsparteien kritisierten, dass die Umsetzung der Familienpflegezeit allein vom guten Willen der Arbeitgeber abhänge.

Meinung

Verpasste Chance

Von SZ-KorrespondentStefan Vetter

Es war einmal eine Familienministerin, die hatte große Pläne. Um dem wachsenden Pflegebedarf gerecht zu werden, wollte Kristina Schröder einen Rechtsanspruch für Angehörige einführen. Mit dem jetzt verabschiedeten Gesetzentwurf ist davon nur noch ein Torso übrig geblieben. Zwar bleibt es bei der begrüßenswerten Neuregelung, dass Angehörige während der Pflegephase nur auf einen Teil ihres üblichen Arbeitseinkommens verzichten müssen. Aber aus dem Rechtsanspruch ist eine unverbindliche Anregung geworden. Wer sich so wegduckt, wird der Bedeutung des Problems nicht gerecht. Schon heute sind in Deutschland rund 2,3 Millionen Menschen pflegebedürftig. Der größte Teil davon wird in den eigenen vier Wänden versorgt, was dem Staat enorme Kosten spart. Wenn das so bleiben soll, dann muss die Förderung der Betreuung durch Angehörige spürbar verbessert werden. Warum nicht eine Lösung nach dem Vorbild des Elterngeldes? Was jungen Müttern und Vätern nützt, wäre auch ein Gewinn für eine menschenwürdige Versorgung im Alter. Aber dazu bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, was uns die Pflege wert ist. Mit ihrem kleinmütigen Vorgehen hat Schröder die Chance dafür verpasst.

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