Brüssel war nur der Plan B

Brüssel · Die Terror-Zelle in Brüssel plante weitere blutige Anschläge in Paris. Nach der Verhaftung des „Mannes mit dem Hut“ kommen immer neue erschreckende Details ans Licht. Und in Brüssel fragt man sich: „War es das?“

 Den belgischen Sicherheitsbehörden war am Freitagabend in Anderlecht ein wichtiger Schlag gegen die Terroristen gelungen. Sicher fühlen sich die Menschen aber noch immer nicht. Foto: LECOCQ/dpa

Den belgischen Sicherheitsbehörden war am Freitagabend in Anderlecht ein wichtiger Schlag gegen die Terroristen gelungen. Sicher fühlen sich die Menschen aber noch immer nicht. Foto: LECOCQ/dpa

Foto: LECOCQ/dpa

Es sind nur wenige Sätze, die die Brüsseler Staatsanwaltschaft gestern von sich gibt. Doch die haben es in sich: Die Anschläge vom 22. März waren nicht geplant. Eigentlich hatten die Terroristen einen dritten Anschlag auf Paris vorbereitet. In diesem Moment ist die Erleichterung über die Verhaftungen vom Freitagabend wie weggeblasen. Es fühlt sich an, als habe die belgische Hauptstadt einen zweiten Schlag bekommen. "32 Tote, über 340 Verletzte - das war alles nur ein Versehen?", heißt es auf einem Plakat, das gestern Mittag an der Gedenkstelle vor der Brüsseler Börse abgelegt wurde. "Es ist natürlich eine gute Nachricht, dass Abrini festgenommen wurde", erklärte Innenminister Jan Jambon, "ich denke, wir haben eine Schlacht gewonnen - aber nicht den Krieg."

Dabei hatte es zunächst so gut ausgesehen. Am frühen Freitagabend waren die Anti-Terror-Spezialisten ausgerückt, hatten sechs Männer verhaftet. Am Samstag gestand Mohamed Abrini, der dritte Attentäter am Flughafen gewesen zu sein. Unter den Verhafteten befindet sich auch Osama Krayem, der bei dem Anschlag auf die Metro geholfen hat und nun zugab, die Taten mit vorbereitet zu haben. Alle Attentäter gefasst oder tot - Brüssel könnte eigentlich aufatmen. Doch die Erleichterung will sich nicht einstellen. Zu tief erschüttert sind die Menschen von den Enthüllungen, die die Fahnder portionsweise preisgeben, als könnten sie den Menschen die ganze Wahrheit nicht auf einmal zumuten.

Brüssel war offenbar wirklich nur der Plan B, weil die Terror-Zelle eigentlich zum dritten Mal in Paris zuschlagen wollte. Doch als die Polizei Salah Abdeslam, eine der Schlüsselfiguren der Anschläge vom 13. November in der französischen Hauptstadt, in Brüssel verhaftete, geriet man in Panik und wollte so schnell wie möglich "noch etwas anrichten". Also fiel die Wahl auf Brüssel , wo die meisten Unterschlupf gefunden hatten. Die Extremisten wählten den Flughafen und die Metro, zumindest zwei Sprengsätze wurden aber nicht gezündet, zu einem Anschlag auf öffentliche Restaurants oder Cafés mit automatischen Waffen kam es auch nicht. "Die Täter fühlten sich offenbar bedrängt und wollten nur noch eines: zuschlagen", nannte es ein Ermittler am Wochenende. Schockierend sind die Erkenntnisse, weil sie den Eindruck von ein paar Einzeltätern durchkreuzen. "Wir haben keine Terror-Zelle, sondern eine perfekt agierende Terror-Organisation mit Kommando-Ebene, Logistikern, Befehlsempfängern und Hintermännern in Syrien", hieß es in Brüssel von den Behörden. Dass dieses Netzwerk, das die Aktion am 13. November durchführte, gleichsam unter den Augen der Behörden entstehen konnte, wollen die Menschen nicht verstehen. "Wie können wir denn sicher sein, dass man jetzt alle hat?", fragte eine Passantin vor der Börse. Es ist die Unsicherheit, die alle bewegt. Offenbar auch die Verantwortlichen der Stadt. Bürgermeister Rudi Vervoort hatte Mitte letzter Woche die Rückkehr zur Normalität versprochen. So sollten die Metro-Linien ab heute wieder normal verkehren. Bisher hatte man den Verkehr auf 7 bis 19 Uhr eingeschränkt. Doch gestern teilte der Betreiber mit, man werde vorerst nur bis 21 Uhr fahren. Außerdem sollen überall nur ein oder zwei Zugänge geöffnet werden. "Wovor haben die Angst?", fragen sich viele: "Was wissen sie, was wir nicht wissen?"

Wie groß die Angst ist, konnte man gestern spüren. In einem Kino der Stadt Tournai wurden Explosionen gemeldet. Bis die Entwarnung der Polizei kam, dass es sich um einen Unfall in der Küche handelt, reagierte Belgien mit heller Aufregung.

Meinung:

Töten und Angst sähen

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Es traf Brüssel , weil für eine dritte Terror-Aktion in Paris die Zeit fehlte. Der ganze Wahnsinn der Täter spiegelt sich in diesem Satz wieder. Es gab keine ideologisch oder gar islamisch geprägte Auswahl der Ziele, geschweige denn der Opfer. Man wollte töten und Angst sähen. Und baute dafür offenbar über Jahre hinweg eine straffe Kommando-Struktur auf - unter den Augen der Sicherheitsbehörden, nur ein paar Kilometer von dem Ort entfernt, wo sich jeden Monat Europas Innenminister trafen und den Kampf gegen den Terror planten. Die EU-Metropole hat ihr Vertrauen in die Politik und die Ermittler verloren.

Je mehr Details ans Licht kommen, umso mehr sind die Menschen getroffen. Die zahlreichen Fahndungspannen ergeben zusammen mit den seit Jahren vorliegenden, aber nicht ernst genommenen Hinweisen über die Vorgänge in einzelnen Stadtteilen ein fatales Bild. Es kommt einer Bankrott-Erklärung des Staates gleich, der seinen Bürgern eines der wichtigsten Güter nicht garantieren kann: Sicherheit. Deshalb fällt es schwer zu glauben, dass Belgien diese Anschläge ohne politische Konsequenzen und ohne Anfälligkeit für radikale Lösungen überstehen wird.

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