Vor der Briten-Wahl Endspurt im Kampf um Nummer Zehn

London · Eine Brexit-müde Insel hat die Wahl: Johnson oder Corbyn, EU-Austritt oder doch nicht? Viele Briten sind noch unentschlossen.

 Zur Briten-Wahl am Donnerstag liegt Premier Boris Johnson in Umfragen vor Herausforderer Jeremy Corbyn. Aber sicher ist das nicht.

Zur Briten-Wahl am Donnerstag liegt Premier Boris Johnson in Umfragen vor Herausforderer Jeremy Corbyn. Aber sicher ist das nicht.

Foto: dpa

Nach der letzten Fernseh-Debatte zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn wandten sich sofort alle Blicke auf die Umfragen. Wer hatte den Streit „im Kampf um Nummer Zehn“ am Freitagabend gewonnen – der konservative Premier oder der Labour-Chef? Das Resultat kam den Zuschauern bekannt vor: 52 Prozent fanden Johnson besser, 48 Prozent Corbyn. „Dieses Land ist verflucht“, urteilte ein Kommentator daraufhin. Nicht nur, dass die vorherige Debatte mehr oder minder genauso ausging. Das Ergebnis erinnert vor allem an das EU-Referendum 2016, bei dem sich 52 Prozent der Wähler für den EU-Austritt aussprachen, 48 Prozent dagegen. Und seitdem dominiert das Brexit-Votum die gesamte Politik im Königreich.

Geht es nach Johnson, soll das Thema nun endlich erledigt werden. „Lasst uns den Brexit durchziehen“, ist sein alles überstrahlendes Motto. Es verfängt bei den Brexit-müden Briten. Johnson will das Land zum 31. Januar aus der EU führen und bis zum Ende der Übergangsphase im Dezember 2020 ein Handelsabkommen mit der EU vereinbaren, was Experten indes als unrealistisch einstufen. Abermals würde das Damoklesschwert „No Deal“ über dem Königreich schweben.

Corbyn dagegen hat im Falle seines Wahlsiegs ein zweites Referendum zugesagt, bei dem er sich neutral verhalten würde. Nicht nur dieser Schlingerkurs sorgt für Missstimmung bei Labour. Die Antisemitismusvorwürfe gegen seine Partei und Corbyns Umgang damit schrecken etliche Wähler ab. Welcher Kandidat ist weniger schlimm? Keiner löst im frustrierten und tief gespaltenen Volk Enthusiasmus aus.

Während der 70-Jährige im Wahlkampf-Endspurt seine Lösungsvorschläge zu erklären versuchte statt seinen Widersacher anzugreifen, spulte der 55-jährige Johnson seine populistischen Parolen in Trump-Manier herunter. Mit Details hält sich der Premier nicht auf. Warum auch? Die meisten seiner Erfolgsberichte würden als Luftnummer entlarvt. So wird er etwa dafür gefeiert, dass er der EU durch seine angebliche Brillanz einen Deal abgerungen habe. Geschenkt, dass er vielmehr eingeknickt ist und eine rote Linie für die Unionisten in Nordirland überschritten hat. Johnson brach sein Versprechen, indem er einer De-Facto-Zollgrenze in der Irischen See zustimmte. In die Öffentlichkeit gelangte Regierungsdokumente, nach denen Waren aus Nordirland für Großbritannien nach dem Brexit kontrolliert werden müssen, bestätigen das. Die Papiere bezeichnete Johnson im typischen Ton als falsch. Und kommt damit offenbar durch. Ihm winken fünf weitere Jahre in der Downing Street.

Richtig punkten kann Johnson jüngst mit einem Werbespot, der eine bekannte Szene aus dem Film „Tatsächlich... Liebe“ nachspielt und in dem der Premier zur Weihnachtszeit an der Haustür einer Frau klingelt und – nein, nicht seine Liebe gesteht, aber sie mittels Pappschilder-Botschaften bittet, seine Tories zu wählen. Das kam an.

Die offene Frage im Wahlkampf bleibt, weshalb Corbyn Johnson nicht stärker attackierte. Für die Sparpolitik der Tories etwa. Warum er ihn nicht mit dessen Halbwahrheiten konfrontierte. Es wäre ein Leichtes gewesen, aber Johnson spielt das Spiel zu gut.

Am Wochenende prognostizierte der Premier einen Baby-Boom nach dem Brexit. Seine Anhänger feixen über so viel Optimismus, seine Kritiker raufen sich die Haare ob der Stumpfheit. Sie rufen zum taktischen Wählen auf, um eine parlamentarische Hängepartie herbeizuführen und die Tories aus der Regierung zu halten. Die Umfragen deuten indes seit Wochen auf eine absolute Mehrheit für die Konservativen. Labour könnte nur mit der Hilfe kleinerer Oppositionsparteien wie den Liberaldemokraten und der Schottischen Nationalpartei eine Minderheitsregierung bilden.

Es kommt kaum überraschend, dass sich mehr Briten als sonst auch wenige Tage vor dem Urnengang unentschieden präsentieren. Das macht diese Wahl, die den künftigen Kurs des Königreichs so stark bestimmt wie kaum eine zuvor, völlig unvorhersehbar – aller Umfragen zum Trotz.

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