Armutsfalle Pflege Pflegestufen sollen auf den Prüfstand

Berlin. Pflege kann arm machen. Der neue Pflege-Report der Krankenkasse Barmer GEK belegt dies mit nüchternen Zahlen. Ein Zehntel der Betroffenen muss von Beginn der Pflegebedürftigkeit bis zum Tod mehr als 99 000 Euro aus eigener Tasche zahlen - im Schnitt ist es mit 37 000 Euro spürbar weniger, in den Spitzen mit mehr als 300 000 Euro aber weit mehr

 Pflege ist teuer. Bei Frauen fallen die Kosten wegen der längeren Lebenserwartung deutlich höher aus als bei Männern. Foto: Charisius/dpa

Pflege ist teuer. Bei Frauen fallen die Kosten wegen der längeren Lebenserwartung deutlich höher aus als bei Männern. Foto: Charisius/dpa

Berlin. Pflege kann arm machen. Der neue Pflege-Report der Krankenkasse Barmer GEK belegt dies mit nüchternen Zahlen. Ein Zehntel der Betroffenen muss von Beginn der Pflegebedürftigkeit bis zum Tod mehr als 99 000 Euro aus eigener Tasche zahlen - im Schnitt ist es mit 37 000 Euro spürbar weniger, in den Spitzen mit mehr als 300 000 Euro aber weit mehr. Die Pflegeversicherung zahlt im Schnitt weniger als die Hälfte der Gesamtkosten.Bei Frauen fällt wegen meist längerer Pflege mehr an als bei Männern. Ist das Ersparte aufgebraucht, sind zunächst die nächsten Angehörigen gefordert, und dann ist es der Staat in Form der Sozialhilfe. So weit, so klar - und so beängstigend für viele, die pflegebedürftig werden. Doch muss es so bleiben? Was könnte geschehen gegen Pflege als Armutsrisiko?

Als die Pflegeversicherung 1994 im Bundestag beschlossen wurde, war dies der Schlusspunkt eines langen politischen Gezerres - und zugleich der Ausgangspunkt für viele weitere Reformforderungen. "Das Haus steht, das ist das Wichtigste", sagte der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) später in einem Interview. "Aber es muss weiter daran gearbeitet werden."

2008 trat unter der damaligen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) die erste Pflegereform in Kraft. Eine umfassende Absicherung brachte sie nicht. Die Beiträge stiegen etwas, die Leistungen auch, Prüfungen in Heimen sollten Missständen Einhalt gebieten. Anfang kommenden Jahres tritt wieder eine Reform in Kraft, doch auch FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) springt aus Sicht seiner Kritiker viel zu kurz.

Die Leistungen werden wieder etwas angehoben, vor allem für Demenzkranke. Auch andere Details sollen Betroffenen und Angehörigen zugutekommen. Und auch gegen die finanziellen Risiken wird eine Idee umgesetzt - der "Pflege-Bahr". Der Abschluss privater Zusatzversicherungen für den Pflegefall wird steuerlich gefördert. Zahlt ein Versicherter dafür mindestens zehn Euro monatlich, bekommt er fünf Euro vom Staat.

Barmer-GEK-Vize Rolf-Ulrich Schlenker versucht, dem Vorstoß Positives abzugewinnen. "Ich finde ihn durchaus spannend", sagt er. "Er wird aber wohl auf tönernen Füßen stehen." Ausgerechnet für Geringverdiener gebe es zu wenig Anreize zur Privatvorsorge. 60 Euro Förderung vom Staat pro Jahr seien lächerlich. Und im Detail sei das Versicherungsmodell unausgegoren, findet Heinz Rothgang vom Zentrum für Sozialpolitik in Bremen.

Da scheint es gut zu passen, dass die Gewerkschaft Verdi erst Mitte des Monats eine Alternative vorgeschlagen hat - eine Vollversicherung für die Pflege ähnlich wie bei den Krankenkassen. Während Schwarz-Gelb den Pflegebeitrag zum neuen Jahr von 1,95 auf 2,05 Prozent steigen lässt, ist nach Berechnungen im Auftrag von Verdi eine Vollversicherung bereits für 3,25 Prozent zu haben. Bei einem Durchschnittseinkommen von 2500 Euro würden Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil damit von derzeit 24 auf dann 40 Euro steigen.

Doch auch davon halten die größte Kasse Barmer GEK und die Experten in ihrem Auftrag wenig. Wollen nicht die meisten Menschen daheim betreut werden? Würde alles von der Kasse bezahlt, so meinen sie, entstünde ein Sog zu noch mehr Heimpflege.

Deshalb kommen sie doch auf den "Pflege-Bahr" zurück, aber in einer Großversion. Der Staat müsste weit mehr Geld in die Hand nehmen als 90 Millionen Euro. Von so viel pro Jahr geht die Regierung in einer Umsetzungsverordnung aus, die heute das Bundeskabinett passieren soll. Und: Der Abschluss der Zusatzversicherungen müsse verpflichtend werden, fordert Barmer-Vize Schlenker.

Nach der Reform ist vor der Reform. Das sieht auch Bahr so. Doch das nächste Projekt auf der Pflegebaustelle soll sich erstmal den Ausgaben widmen. Dabei geht es um eine grundsätzlich neue Einstufung der Betroffenen in die Pflegeversicherung - auch Altersverwirrte sollen im Regelfall angemessener versorgt werden können. Vorschläge liegen seit fast vier Jahren auf dem Tisch, ein Expertengremium sitzt im Stillen weiter daran. Wissenschaftler Rothgang spricht wenig schmeichelhaft von einer verschenkten Legislaturperiode. Saarbrücken. Die Saarländische Pflegegesellschaft predigt es schon seit Jahren gebetsmühlenartig: Gute Pflege braucht Zeit, gutes Personal und gutes Geld. Quasi zur Unterstützung ihres Anliegens hat sich die Vertretung aller stationären Altenhilfeeinrichtungen und Sozialstationen sowie der privaten Pflegedienste jetzt wissenschaftlichen Rat geholt. Und zwar bei der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Der Pflegewissenschaftler Albert Brühl stellt in einer gestern vorgelegten Studie fest: Die gegenwärtigen Pflegestufen eins bis drei sind zur Bewertung notwendiger Pflegezeiten in stationären Altenpflegeeinrichtungen nicht geeignet. Das heißt: Die Personalausstattung in vielen Pflegeheimen entspricht nicht dem tatsächlichen Bedarf. Ein Thema, das in der Bundespolitik immer wieder aufflammt, in der politischen Diskussion allerdings bisher folgenlos blieb. Die gesetzlichen Pflegestufen gehen aktuell von einem Zeitbudget von 90 Minuten (Stufe eins, erhebliche Pflegebedürftigkeit) bis fünf Stunden (Stufe drei) für Schwerstpflegefälle aus.

An der saarländischen Studie, die von der Pflegegesellschaft als "bundesweit einmalig" gewertet wird, beteiligten sich 62 Pflegeeinrichtungen mit 163 Wohnbereichen und rund 4900 Bewohnern. Kosten: 40 000 Euro. Für das Gutachten ist genau erfasst worden, wie viel Pflegezeit unter den aktuellen Rahmenbedingungen für die Bewohner einer stationären Einrichtung erbracht wurde. Mit diesen Daten sei es möglich, 16 Bedarfsgruppen einzurichten und auf einer wissenschaftlich abgesicherten Basis eine Pflegezeit zu ermitteln, die den Bedürfnissen der Menschen Rechnung trägt, erläuterte Brühl.

Der Chef der Saarländischen Pflegegesellschaft, Harald Kilian, will die Ergebnisse des Gutachtens bereits in die Vertragsverhandlungen mit den Landkreisen und Pflegekassen für das Jahr 2013 einbringen. Er bekräftigte seine Forderung, wonach mehr Geld in das System Pflege gesteckt werden müsse, um die Qualität zu erhöhen. gp

Meinung

Mehr als satt und sauber

Von SZ-RedakteurGuido Peters

Mal ehrlich: Überraschend sind die Ergebnisse der Pflege-Studie nicht. Was die Wissenschaftler der Hochschule Vallendar akribisch aufgearbeitet haben, bestätigt die Position der Saarländischen Pflegegesellschaft. Seit Jahren stellt sie mantramäßig fest: Die gesetzlichen Pflegezeiten sind nicht ausreichend, wenn man den alten und kranken Menschen mehr als "satt und sauber" bieten will. Und ein mäßig bezahlter Pflege-Job macht die Nachwuchs-Suche auch nicht einfach. Die entscheidende Frage wird künftig sein, wie viel Geld eine alternde Gesellschaft bereit ist, in das Soziale zu stecken. Es darf dabei nicht derjenige auf der Strecke bleiben, der sich für die Pflege im Alter nichts zur Seite legen konnte.

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