„All EU needs is love“

London · Kann der Brexit doch noch verhindert werden? Viele Briten wünschen sich das. Zehntausende treten lautstark dafür ein, wie auch jetzt am Samstag. Selbst die Queen mischt sich ein – zumindest ein kleines bisschen.

Intrigen und perfide Machtspiele in der Politik sind der Stoff der US-Serie "House of Cards" und natürlich lagen in den vergangenen Tagen die Vergleiche mit Großbritannien nahe. Doch mittlerweile kann selbst Fiktion nicht mehr mit der Realität mithalten. Was sich seit dem Brexit-Votum auf der Westminster-Bühne abspielt, lässt jeden Beobachter nur mit Fassungslosigkeit zurück. Beide Parteien, sowohl die konservativen Tories als auch die Labour-Partei zerfleischen sich selbst anstatt endlich einen Plan für die Zukunft außerhalb der EU zu präsentieren und damit nicht nur ein völlig verunsichertes Volk zu beruhigen, sondern auch die gespaltene Gesellschaft zu versöhnen. Das entstandene Machtvakuum gefährdet die Stabilität des Landes nur noch mehr, als es der Brexit ohnehin schon tut.

Das treibt auch besorgte Bürger auf die Straße. Am Wochenende demonstrierten tausende Briten mit europafreundlichen Slogans und geschmückt in den Farben der EU-Flagge gegen den Brexit. Manche wandelten den berühmten Beatles-Song "All you need is love" (Alles, was du brauchst, ist Liebe) um in "All EU needs is love" (Alles, was die EU braucht, ist Liebe). Die Menschenmenge zog durch London und am Regierungssitz des amtierenden Premiers David Cameron vorbei zum Parlament. Laut den Organisatoren nahmen 40 000 Menschen an der Demonstration teil. Der Phantasie der EU-freundlichen Demonstranten waren keine Grenzen gesetzt. Viele waren gelb und blau bemalt, trugen Kleidung in den Farben der EU-Flagge oder schwenkten die Fahne. Der von den Organisatoren "Marsch für Europa" getaufte Protestzug startete im Hyde Park und zog friedlich durch die Straßen der britischen Hauptstadt. Als die Menge in der Downing Street vorbeikam, riefen einige Demonstranten "Schande über Dich" - in der Hausnummer Zehn hat Premier Cameron seinen Amtssitz.

Inzwischen unterzeichneten mehr als vier Millionen Menschen eine Petition, die ein neues Referendum über die Zukunft Großbritanniens in der EU fordert. "Die ,Leave‘-Kampagne hat die Menschen in die Irre geführt", sagte die 37-jährige Demonstrantin Casey, die gelbe und blaue Blumen im Haar trug. "Ich möchte die EU nicht verlassen." Der frühere TV-Produzent Nicholas Light forderte eine neue Volksabstimmung. Auch der in den EU-Farben gekleidete Demonstrant David sagte: "Wir können noch etwas tun, solange Artikel 50 noch nicht aktiviert ist." Der Musiker Bob Geldof rief die EU-Befürworter auf, ihren Unmut nicht nur im Internet kundzutun, sondern auf die Straße zu gehen. "Kommt raus, ruft Eure Freunde und Nachbarn zum Handeln auf", sagte er.

Die Queen dagegen bewahrt Ruhe. Ohne das Thema Brexit beim Namen zu nennen, betonte Elizabeth II am Samstag in Edinburgh die Notwendigkeit, "ruhig und gefasst zu bleiben". Gerade in Zeiten schneller Entwicklungen brauche es "genügend Raum für ruhiges Denken und Überlegen". Dies könne zu tieferen Einsichten über die Herausforderungen und Chancen der Gegenwart sein, sagte die Queen zur feierlichen Eröffnung des neu gewählten schottischen Parlaments.

Tiefere Einsichten könnten derzeit auch der Labour-Partei nicht schaden. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der das Land eine starke Opposition dringend bräuchte, zerstört sich diese selbst. Parteichef Jeremy Corbyn will den Machtkampf offenbar aussitzen und lehnt einen Rücktritt ab. Ex-Parteichef Neil Kinnock betonte, die Unterstützung der Parteibasis für Corbyn bröckele. Es gebe keine Grundlage mehr, auf der sich der seit dem Brexit-Votum massiv bedrängte Corbyn im Amt halten könnte. Er sei bereit, mit den Abgeordneten zusammenzuarbeiten, die ihn ablehnen, schrieb er im "Sunday Mirror". Seine Kritiker müssten aber auch akzeptieren, dass die Parteibasis ihn mit breiter Mehrheit gewählt hatte. Parteiinterne Kritiker fürchten, mit Corbyn an der Spitze künftige Wahlen zu verlieren. Ausgang offen.Allzu groß sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem britischen Noch-Premier David Cameron und Brexit-Betreiber Nigel Farage nicht. Doch in einem Punkt scheinen sie sich einig: Großbritannien soll auch nach dem Abschied aus der EU Zugang zum europäischen Binnenmarkt haben. Modelle dafür gebe es, betonen beide. "Die Menschen in Norwegen und der Schweiz sind glücklich", pflegte Farage, Chef der Unabhängigkeitspartei Ukip, im Wahlkampf zu sagen. "Ihre Länder haben einen Deal mit der EU und dieser sichert ihnen die Handelsbeziehungen , die sie wollen."

Abgesehen davon, dass dieses vermeintliche Ideal unter die in Brüssel verpönte "Rosinenpickerei" fällt, weil sich das Vereinigte Königreich aus dem EU-Katalog aussuchen könnte, was es will, scheinen die Verfechter dieser Idee auch auf dem Holzweg zu sein. Experten sagen nämlich: Beide Varianten funktionieren für Großbritannien nicht oder sie sind nahezu unbezahlbar. Das beste Beispiel dafür sei Norwegen. Die fünf Millionen Einwohner haben es zwei Mal abgelehnt, der Gemeinschaft beizutreten, den Binnenmarkt wollte man aber trotzdem. So kam Oslo 1994 zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), eine Art Freihandelszone mit Europa. Aber deren Mitglieder zahlen für den Vorteil, mit den EU-Staaten zollfrei handeln zu können, einen hohen Preis - rund 83 Prozent des Beitrages, den das Land als Vollmitglied nach Brüssel überweisen müsste. Für die Skandinavier kostet Europa derzeit rund 850 Millionen Euro pro Jahr. Diese Rechnung würde - auf das Vereinigte Königreich bezogen - jährliche Überweisungen von vier Milliarden Euro im Jahr ergeben. Derzeit sind es fünf Milliarden. Dies ergab eine Berechnung des britischen Unterhauses auf der Basis der Zahlen von 2013.

Der Knackpunkt ist aber nicht nur das Geld: Wie Norwegen müsste London auch künftig zahlreiche EU-Vorschriften übernehmen - darunter praktisch alles, was die Briten loswerden wollten: die Arbeitnehmerfreizügigkeit, Sozial- und Verbraucherschutz-Standards, den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital. Darüber hinaus hätte London keine Möglichkeit mehr, die EU-Beschlüsse zu diesen Themen zu beeinflussen, da man ja nur an die Union angeschlossen wäre, ohne mitreden zu dürfen.

Das "Modell Schweiz" scheint noch undenkbarer zu sein, weil es aus 120 bilateralen Abkommen mit der EU besteht. Diese Verträge legen in nahezu allen politischen Einzelfragen (nur der für London so wichtige Finanzmarkt wurde bisher noch nicht geregelt) fest, dass Bern de facto gezwungen ist, die EU-Gesetzgebung zu übernehmen - ohne Mitspracherecht. Dafür käme diese Variante London etwas billiger, denn die acht Millionen Eidgenossen müssen als Gegenleistung für den weitgehend ungehinderten Zugang zur Gemeinschaft nur 40 Prozent dessen zahlen, was bei einer Vollmitgliedschaft anfiele.

Und auch die dritte Variante passt zu dem, was sich die Brexit-Anhänger gewünscht haben, nicht. Eine Gemeinsamkeit, die nur auf neu geschlossenen Freihandelsabkommen beruhen würde, hätte einen kaum überwindbaren Nachteil: Alle Abkommen, die Brüssel bisher geschlossen hat, nehmen den für London so wichtigen Finanzmarkt aus. Um dem beitreten zu können, muss man der EU angehören. Ist dies nicht der Fall, sind die Institute gezwungen, ihren Sitz in ein Mitgliedsland zu verlegen. Beides ist genau das, was die Mehrheit der Briten gerade abgelehnt hat.

Zum Thema:

Hintergrund Die SPD-Spitze fordert nach dem Brexit-Referendum einen Neustart für Europa. "Wenn darin etwas Gutes entstehen kann, dann, dass wir Europa verändern, damit es wieder mehr Zustimmung erhält", sagte Parteichef Sigmar Gabriel . "Wir müssen Europa besser machen", forderte der Vizekanzler. Am Samstag kritisierte Gabriel den Plan für härtere Sparauflagen in den ärmeren Ländern. Die EU sei zunehmend in den ärmeren Süden und reicheren Norden gespalten. "Wir müssen anfangen, Europa zu entgiften", forderte Gabriel. dpa Berlin wirbt nach der Brexit-Abstimmung um die Umsiedlung von Unternehmen aus London in die deutsche Hauptstadt. "Es kann durchaus sein, dass Berlin Gewinner des Brexit ist", sagte gestern der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD ). Berlins Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer (CDU ) schickte schon am Tag nach der Abstimmung erste Schreiben an britische Unternehmen, in denen sie für Berlin warb. afp Der Grünen-Politiker Boris Palmer hat Kanzlerin Angela Merkel (CDU ) nach dem Brexit-Votum im Vereinigten Königreich Fehler vorgeworfen. "Angela Merkel hat es nicht geschafft, Europa zusammenzuhalten. Das wiegt schwer. Der Brexit letzte Woche steht in einem Wirkungszusammenhang mit der Flüchtlingskrise", sagte der Tübinger Oberbürgermeister. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort