Ausgebrochen statt ausgerottet

Berlin · Die deutschen Pläne zur Ausrottung der Masern in diesem Jahr waren zu ehrgeizig. Ein Ausbruch in Berlin zeigt: Die Impflücken sind noch groß.

Kleiner Piks, große Wirkung. So könnte das bei Masernimpfungen laufen. Doch ein großer Masern-Ausbruch in Berlin macht deutlich, dass die deutschen Pläne zur Ausrottung der Krankheit im Jahr 2015 schon zu Jahresbeginn gescheitert sind. Seit Beginn der Ansteckungswelle im Oktober sind nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) allein in der Hauptstadt 375 Menschen erkrankt - über die Hälfte davon Erwachsene. Die Welle läuft weiter. Im Januar gab es 254 neue Masern-Fälle in Berlin . Und 90 Prozent der bisher befragten 335 Patienten gaben an, nicht geimpft zu sein.

Ginge es nach den Zielen der Bundesregierung, dürfte es in Deutschland in diesem Jahr nicht mehr als 82 Masern-Erkrankungen geben - wohlgemerkt bundesweit. Denn auch die Bundesrepublik hat sich bei der Weltgesundheitsorganisation verpflichtet, die hochansteckende Infektionskrankheit bis 2015 auszurotten. Es ist auch sehr viel passiert. Bei Kindern haben sich die Impfquoten seit dem Jahr 2000 erheblich verbessert, wie Untersuchungen zum Schulbeginn belegen. Bei der Erstimpfung liegen sie heute bei 96,7 Prozent, beim zweiten Piks bei 92,4. Im Saarland beträgt die Impfquote für die erste Masernimpfung 98,2 Prozent und für die zweite 93,8 Prozent. 2013 gab es hierzulande keinen gemeldeten Masernfall, 2014 waren es zwei.

Erst ab einer Quote von 95 Prozent bei beiden Impfungen kann eine Eliminierung der Krankheit langfristig gelingen. "Insgesamt ist der Impfstatus in der Bevölkerung weiterhin zu gering", so Anette Siedler, amtierende Leiterin des Fachbereichs Impfprävention am RKI. "Der Berliner Ausbruch ist ein herber Rückschlag." Er mache die Impflücken in Deutschland sehr deutlich.

Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, wundert der Ausbruch in Berlin trotz aller Fortschritte bei der Prävention nicht: "Die Politik tut einfach noch zu wenig, das ist ein Eiertanz." 2013 hatte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP ) laut über eine Impfpflicht bei Masern als letztem Mittel nachgedacht - wie früher, als es um die Ausrottung der Pocken ging. Gehör fand er nicht. Zwang hält Anette Siedler für den falschen Weg. Verpflichtende Impfnachweise an Schulen hätten in den USA wenig gebracht. Auch dort läuft gerade eine Masernwelle (siehe Text unten). Siedler setzt daher in Deutschland auf Information und Überzeugung.

Seit langem herrscht Konsens darüber, dass Masern keine harmlose Kinderkrankheit sind. Die Infektion ist hochansteckend und schwächt das Immunsystem. Folgen können im schlimmsten Fall Gehirnentzündungen sein - manchmal mit lebenslangen Schäden wie geistigen Behinderungen. Zwei von 1000 Patienten sterben nach den RKI-Statistiken an den Folgen einer Infektion. Es war Hillary Clinton , die sich am prägnantesten um Klartext bemühte. "Die Wissenschaft lässt keine Zweifel: Die Erde ist rund, der Himmel blau, und Impfungen tun ihre Wirkung. Lasst uns unsere Kinder beschützen", meldete sich die Präsidentschaftskandidatin in spe via Twitter zu Wort. Die USA diskutieren über Masernimpfungen, so intensiv wie lange nicht über ein medizinisches Thema.

Es begann im Vergnügungspark Disneyland in Kalifornien . Dort nahm eine Ansteckungsserie ihren Lauf, die mittlerweile auf 14 Bundesstaaten übergegriffen und zu über 100 bekannten Krankheitsfällen geführt hat. Wovon dagegen kaum jemand Notiz nimmt, ist ein noch heftigerer Ausbruch in Ohio , wo ungefähr im selben Zeitraum 383 Menschen an Masern erkrankten. Praktisch ausnahmslos gehören sie der strengreligiösen Glaubensgemeinschaft der Amish an, infiziert hatten sie sich bei Missionaren, die von den Philippinen zurückgekehrt waren. Da die Amish in geschlossenen Gemeinden leben und ihre Kinder auf eigene Schulen schicken, hält sich die Aufregung über diese Fälle in Grenzen.

Viele Amerikaner lassen ihre Kinder nicht impfen, sehr religiöse Menschen ebenso wie alternativ-gesundheitsbewusst lebende Westküstenbewohner, die Angst vor Nebenwirkungen haben. Bis heute steht die These im Raum, Masernimpfungen könnten Autismus auslösen, obwohl Experten sie für Unfug erklären.

Die Politik streitet indessen um Pro und Contra staatlicher Impfprogramme. Chris Christie, der Gouverneur von New Jersey, plädiert für eine "Balance" in der Diskussion um Schutzimpfungen. Rand Paul - einst Augenarzt, heute Senator - sagt, wer seinen Nachwuchs nicht immunisieren lassen wolle, den dürfe man nicht dazu zwingen. "Kinder gehören schließlich nicht dem Staat." Beide Republikaner schielen auf eine Präsidentschaftskandidatur. Auch Barack Obama schaltete sich in die Debatte ein. "Wir haben das ein ums andere Mal studiert", sagt der Präsident. "Es gibt jeden Grund, sich impfen zu lassen. Und keinen, es nicht zu tun."

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