Reise zur Nordsee Das Zauberland kommt ohne Autos aus

Juist · Besucher Juists müssen ihre Pkw auf dem Festland parken. Zum Glück lässt sich die Insel bestens zu Fuß oder mit dem Rad erkunden.

 Die ostfriesische Insel Juist liegt im niedersächsischen Wattenmeer zwischen Borkum und Norderney.

Die ostfriesische Insel Juist liegt im niedersächsischen Wattenmeer zwischen Borkum und Norderney.

Foto: dpa/Ingo Wagner

Koffer und Taschen sind längst hinter den bunten Planen der nummerierten Gepäckcontainer verschwunden und haben ohne körperlichen Einsatz ihrer Besitzer den Weg auf die Fähre gefunden. Die Reisenden haben sich in der Zwischenzeit einen Platz auf den weichen Polstern der Cafeteria gesichert und die obligatorische Bockwurst geordert oder halten auf dem oberen Deck die Nase in den Wind, während sich das Schiff tutend von Norddeich Richtung Juist aufmacht.

Es ist Flut. In hypnotisierender Langsamkeit tuckert die Fähre durch die flache Fahrrinne des niedersächsischen Wattenmeers der Nordseeinsel entgegen. Wobei sich peu à peu der fatamorganagleiche Schatten am Horizont in eine wellige Landmasse verwandelt, die nur aus Dünen und Sand zu bestehen scheint. Mit dem Näherkommen tritt das Inseldorf mit dem Rot seiner Hausdächer aus der Landschaft hervor, überragt vom historischen Kurhaus mit der gläsernen Kuppel und der düsteren Silhouette seines Wasserturms.

Nach der Ankunft auf Juist geht alles seinen gewohnten Gang. In null Komma nichts hat ein Traktor die Gepäckwagen vom Schiff gezogen und am Anleger geparkt. Eine adrette Herrenriege, Seemannskappe in der Stirn, steht mit Fahrrad und Anhänger parat, um die Koffer einiger Gäste ins Hotel zu chauffieren. In kurzer Entfernung ertönt ein Klack Klack, und das Geräusch von Pferdehufen kündigt die vierbeinigen „Inseltaxis“ an, die, einen Wagen hinter sich herziehend, die Hafenstraße herunterkommen. Auf der Wiese neben dem Anleger sucht sich indes ein Teil der Neuankömmlinge aus einem Durcheinander zahlloser Handkarren, alle mit dem Namen ihrer Eigentümer versehen, den seiner Pension oder Ferienwohnung heraus, verstaut das Mitgebrachte darin und steuert die gebuchte Unterkunft per pedes an.

Auf Juist fahren also keine Autos. Na ja, fast keine. Feuerwehr und Ärzte sind motorisiert unterwegs. Ansonsten sorgen die liebenswerten Juister Pferde dafür, dass das Inselleben funktioniert. Sie arbeiten in der Personenbeförderung, der Lebensmittelver- und der Müllentsorgung. Und der Urlauber? Der geht in aller Regel zu Fuß. Oder schwingt sich aufs Rad. So wie die Polizei. Was kein Problem ist, denn die ostfriesische Insel hat mit 16 Quadratkilometern gerade die richtige Größe für ihre bewegungsfreudige Klientel.

Töwerland. Plattdeutsch für Zauberland. So nennt der Juister seine Heimat. Und absolut zauberhaft ist das 500 Meter breite, 17 Kilometer lange Gezeiteneiland in der Tat. Ein Ort ohne Hektik und ohne Lärm. Frische Luft, die das Meer heranweht. Und ganz viel Natur. Die stille, von Ebbe und Flut dirigierte Welt des Watts auf der einen Seite, auf der anderen Seite raue See. Dazwischen Salzwiesen, Dünen, ein Wäldchen und ein breiter weißer Puderzuckerstrand von enormer Länge, auf dem Strandkörbe bunte Punkte hinterlassen.

Viele Wege bringen Juists Urlauber auf Tuchfühlung mit dieser einzigartigen Landschaft. Kürzere und weitere. Wo sich die einen mit einem Spaziergang über die 1,5 Kilometer lange Strandpromenade begnügen, wandern die anderen weiter bis zum künstlerisch gestalteten Otto-Leege-Lehrpfad an den Goldfischteichen, auf dem es eine Gratislektion zum Thema Düneninsel gibt.

Wieder andere verlassen den Hauptort auf einer Pflasterstraße Richtung Westen mit dem Fahrrad, vor sich acht traumschöne Kilometer bis zur „Gesäßbacke“, der Inselattraktion Nr. 1. Zwischen Dorf und Deich geht es zunächst bis Loog, Juists zweiten und ruhigeren Ortsteil, der das erste Drittel der Strecke markiert. Hier gibt es einen Laden, Fahrradvermieter, ein paar wenige Restaurants, das war’s. Und dann natürlich das Küstenmuseum, das sich fast unbemerkt in eine Nachbarschaft aus lauschigen Backsteinhäusern mit Vorgärten voller Wildrosen reiht. Die Ausstellung selbst erzählt in den verwinkelten Räumlichkeiten einer früheren Schule vom harten Leben der Menschen am und mit dem Meer. Sie erklärt uns die Veränderung des Küstenbildes über Jahrtausende ebenso wie die Entwicklung des Seebadewesens. Es gibt zudem dramatische Bilder aus den ersten Tagen der Seenotrettung zu sehen und manch skurriles Strandgut wie ein Glas voller Rattenschwänze oder eine Flaschenpost mit religiösen Erbauungsschriften.

Hinter Loog kommt nur noch Natur. Vorbei am Hammersee, dem größten Süßwassersee der ostfriesischen Inseln, folgt der Weg auf vielen Metern dem Dünenrand – beschallt vom unkoordinierten Konzert eines Vogelorchesters und mit Blick auf weite Salzwiesen, in denen sich Graugänse die Bäuche vollschlagen. Am beliebten Ausflugslokal Domäne Bill, in dem gern bei Rosinenstuten mit dick Butter eine Verschnaufpause eingelegt wird, endet der Weg und man kommt nur noch ein Stück auf der schmalen Deichkrone weiter. Vor einem Fahrrad-Parkplatz heißt es dann: Absteigen! Ab hier nur noch zu Fuß! Der Pflasterweg wird zum Trampelpfad, hinter dem sich Juists „Pobacke“, die Bill, erstreckt. Das Betreten dieses einmaligen, bei Ebbe riesigen, von Prielen durchzogenen Sandriffs ist ebenso gefährlich wie verboten. Lediglich ein ausgewiesener Wanderweg, der am Inselnordrand entlangführt, erlaubt ein Kennenlernen der geschützten Nationalparkzone.

Mit etwas Glück lassen sich an der Bill Seehunde beobachten. Erfolgversprechender ist dieses Vergnügen aber sicher bei einem Ausflug mit Käpt’n Schünzel, dessen Schiff regelmäßig im Hafen startet. Unter lautem Motorengetöse schippert die „Wappen von Juist“ dann den ganzen Inselsüden entlang, passiert das Vogeleiland Memmert, bis plötzlich kleine Köpfe mit großen Knopfaugen auf den Wellenkämmen auf- und wieder abtauchen – erste Vorboten einer Kolonie von Seehunden und Kegelrobben, die auf einer weiten Sandbank ruhen. „Seien Sie jetzt ganz still, damit Sie die Tiere nicht stören“, warnt Schünzel seine Passagiere, während er das Schiff in gebührendem Abstand an den Sonnenbadenden vorbeisteuert. Einige werden dann doch nervös und verdrücken sich ins Wasser, doch die meisten schauen einfach nur verwundert, und man muss sich fragen: Wer beobachtet hier wen?

 Reisekarte Juist

Reisekarte Juist

Foto: SZ/Steffen, Michael
 Von einem 17 Meter hohen, Memmertfeuer genannten Turm bietet sich ein Panoramablick auf Juists Hafen und  dessen Umgebung.

Von einem 17 Meter hohen, Memmertfeuer genannten Turm bietet sich ein Panoramablick auf Juists Hafen und  dessen Umgebung.

Foto: Sabine Mattern

Zurück im Hafen kann’s dann mit dem Beobachten gern weitergehen, vorausgesetzt, es legt eine Fähre vom Festland an und das immer gleiche Schauspiel aus Menschen, Pferden, Fahrrädern, Handkarren nimmt seinen Lauf. Vielleicht ist es auch gerade kurz vor drei am Nachmittag. Dann macht Juists Leuchtturmwärter für eine Weile Pause in seinem Käseladen, radelt zum Hafen und sperrt die Tür des Leuchtturms auf, der in Wirklichkeit gar keiner ist. „Unser Memmertfeuer ist ein nautisches Denkmal, das sein Licht nicht auf Nordsee und Wattenmeer richtet“, erklärt Bernd Grützmacher, ein echter Seebär mit Schnauzbart und Seemannsmütze, der in jungen Jahren auf großen Handelsschiffen die Welt bereist hat. Entstanden sei der 17 Meter hohe Turm erst 1992, sechs Jahre, nachdem man auf Memmert die Laterne des stillgelegten Leuchtfeuers abgebaut habe. Wer Grützmacher die 52 Stufen nach oben folgt, vorbei an knapp zwei Dutzend angeschwemmten Rettungsringen, die als Deko das Treppenhaus verschönern, kann das originale Laternenhaus von der Nachbarinsel an seinem neuen Platz sehen und zugleich einen 360-Grad-Panoramablick genießen.

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