Nacht der Gewalt in Istanbul

Istanbul · Die türkische Regierung setzt in der Auseinandersetzung mit Demonstranten auf Gewalt. Mit Wasserwerfern und Tränengas vertreibt die Polizei die Menschen aus dem Gezi-Park. Doch die Proteste halten an.

Im Auge des Sturms ist es ruhig um zwei Uhr früh am Sonntag. Der Taksim-Platz liegt dunkel und fast menschenleer da. Nur ein paar Beamte mit Funkgeräten laufen über den Platz und winken die Sattelschlepper des Katastrophenschutzes heran, die weitere Bagger und Baumaschinen bringen, um das Zeltlager im Gezi-Park abzuräumen. Vereinzelt sitzen erschöpfte Demonstranten auf Bordsteinkanten und sehen ihnen zu. Um 20.55 Uhr am Samstagabend hatte der Ansturm begonnen, kurz nach einer letzten Warnung der Polizei: "Achtung, verlassen sie den Gezi-Park, sonst müssen wir sie dazu zwingen." Danach ging alles sehr schnell. Mit Wasserwerfern und Tränengas-Granaten rückte die Polizei vor. Kaum 20 Minuten dauerte es, dann war der Park nach zweiwöchiger Besetzung geräumt. Doch rings um den Taksim-Platz tobte der Sturm weiter in die Nacht hinein. "Taksim ist überall, überall ist Widerstand," riefen die Demonstranten.

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth erlebte entsetzt mit, wie das Protestlager geräumt wurde. "Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen", sagte die Parteivorsitzende der Grünen, die selber etwas von dem brennenden Gas abbekam. Alles sei friedlich gewesen, als die Polizei plötzlich eingegriffen habe, sagte sie. "Von einer Sekunde auf die andere kamen Schüsse wie eine Bombe", sagt sie. Sie habe sich in ein Hotel gerettet.

Mit der Räumung des Gezi-Parks hat Istanbul eine der gewalttätigsten Nächte seit Beginn der Proteste vor knapp drei Wochen erlebt. Auslöser war damals die geplante Bebauung des Parks gewesen. Hunderte Menschen wurden nach Angaben der Protestbewegung in der Nacht zum Sonntag verletzt. Die Polizei habe ihren Einsatz mit einer Gewalt wie im Krieg geführt, kritisierte gestern die Taksim-Plattform, die zu den wichtigsten Organisatoren der Proteste gehört. Die Gewalt werde aber die Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht stoppen können.

Tatsächlich versammelten sich schon gestern erneut zehntausende Menschen in Istanbul zu Demonstrationen. Sie versuchten, aus umliegenden Stadtvierteln zum abgeriegelten Taksim-Platz zu gelangen, berichteten Augenzeugen. In mehreren Vierteln gab es heftige Zusammenstöße mit der Polizei. Regierungsanhänger sollen laut Oppositionellen am Abend Demonstranten attackiert haben. Zwei der größten Gewerkschaften des Landes riefen für heute dazu auf, die Arbeit niederzulegen.

Erdogan versammelte derweil gestern Nachmittag zehntausende seiner Anhänger. Er beschimpfte die Demonstranten als "Terroristen" und "Gesindel" und verteidigte die Räumungsaktion. "Ich hatte gesagt, dass wir das Ende erreicht hätten und es untragbar sei", sagte der Regierungschef. "Gestern wurde die Operation ausgeführt und Taksim-Platz und Gezi-Park gesäubert."

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