Zwei Milliarden gegen das „ewige Höllenfeuer“

Düster ragt das Atomkraftwerk Tschernobyl 75 Meter hoch in den Himmel der Ukraine. Frisch getünchte Bordsteine und das frühlingshafte Grün der Bäume täuschen jedoch. Im Innern der Anlage lodert seit der Katastrophe vom 26. April 1986 ein "ewiges Höllenfeuer": etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktivität ein Menschenleben auslöschen würde. Ein Betonmantel schützt die Umgebung vor dem Strahlengift. Heute jährt sich der verheerende Atom-Unfall am Rande Europas zum 30. Mal.

"Bei uns fehlte eine Sicherheitskultur", sagt Sergej Paraschin. Er war in der folgenschweren Nacht als Vertreter der Kommunistischen Partei im Kraftwerk und wurde später zum Direktor ernannt. Um 1.23 Uhr Ortszeit geriet damals ein Test außer Kontrolle, Reaktor vier explodierte. Der Super-Gau, der größte anzunehmende Unfall, trat ein. Zehntausende mussten die Region verlassen. Mit ihrem rostenden Riesenrad wirkt die Geisterkulisse der evakuierten Stadt Prypjat heute wie ein Pompeji der atomaren Ära. 40 Prozent der Sperrzone sind aufgrund des Plutoniums mit 24 000 Jahren Halbwertzeit für immer verstrahlt. Der Rest soll in 30 bis 60 Jahren wieder besiedelbar sein. "Eine Rekultivierung ist aber wirtschaftlich nicht sinnvoll", meint der Verwaltungsdirektor der Zone, Witali Petruk. Wie etwa der im Reaktor verbliebene lavaartige Kernbrennstoff gesichert werden kann, ist völlig unklar.

Doch die prowestliche Führung in Kiew hat große Pläne. Mächtige Solarkraftwerke sollten in der Sperrzone stehen, heißt es in der Hauptstadt - auf 80 Quadratkilometern sei eine Stromerzeugung von 4000 Megawatt möglich. Experten schütteln den Kopf: Solche Projekte übersteigen derzeit die Kräfte des zweitgrößten Flächenstaats Europas, den eine Wirtschaftskrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Krim auszehren. Ex-Direktor Paraschin weist auf eine weitere Gefahr hin. "Bei Cäsium 137 ist gerade einmal die Halbwertszeit erreicht", erinnert er. Allein 2015 seien bei Buschfeuern zwei Millionen Kubikmeter Holz verbrannt - und so massenweise Gift aufgewirbelt worden. Die Rückkehr seltener Tierarten wie Luchs oder Elch führen Experten eher darauf zurück, dass dort kaum Menschen sind. Eine Idylle ist Tschernobyl nicht: Den Tieren schadet die Radioaktivität Untersuchungen zufolge erheblich.

Doch nicht nur die Nordukraine wurde 1986 verstrahlt. Die radioaktive Wolke traf vor allem das benachbarte Weißrussland, den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavien und Westeuropa. Wie viele Menschen an den Folgen gestorben sind, ist umstritten. Experten gehen von Zehntausenden Todesfällen aus. Verwaltungschef Petruk ist jedoch insgesamt optimistisch. "In 30 Jahren hat sich die Lage hinsichtlich der radioaktiven Sicherheit verbessert", sagt er. Petruk meint damit auch den neuen Schutzmantel, einen riesigen Stahlbogen, der derzeit im Bau ist. Die halbrunde Konstruktion soll spätestens Ende 2017 über den Reaktor geschoben werden. Mit 100 Metern Höhe hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame darunter Platz.

Der neue ukrainische Umweltminister Ostap Semerak unternahm vor wenigen Tagen seine erste Amtsreise zu dem Schicksalsort. Er inspizierte den Bau der neuen Hülle, die für die nächsten 100 Jahre die Ruine vor dem Eindringen von Wasser und dem Entweichen von Staub schützen soll. Etwa 40 Staaten beteiligen sich an den mehr als zwei Milliarden Euro Kosten für den dringend benötigten neuen "Sarkophag". "Über 1400 Menschen arbeiten derzeit an der neue Hülle", sagt Abteilungsleiter Pjotr Britan. In einer spektakulären Aktion sollen am Ende 29 000 Tonnen Stahl über den radioaktiv strahlenden Betonklotz gedrückt werden.

In Deutschland und anderen Staaten sorgte der Tschernobyl-Schock für Angst und Unsicherheit. Die junge Ökobewegung erhielt Auftrieb. Als Reaktion richteten sogar konservative Regierungen Umweltministerien ein. Wegen Tschernobyl legte Italien 1987 seine AKW still, Polen brach 1989 den Einstieg ab. Die Schweiz will ihre Reaktoren bis 2034 auslaufen lassen. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch die Japaner steigen nicht aus - trotz Fukushima.

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