Reise ans Ende der Welt

Keiner sagt mehr ein Wort. Sie sind nicht eben riesig, die zwei Eisberge, die das Kreuzfahrtschiff in der Enge der antarktischen Lemaire-Straße in die Zange genommen haben. Aber groß genug, dass Kapitän Vladimir Vorobyof schreit. Ja brüllt - Steuer-Befehle, die die Crew-Mitglieder auf der Brücke kurz erstarren lassen

 Brüten vor imposanter Kulisse: Adelie-Pinguine auf Petermann Island, eine kleine Insel nahe der urkrainischen Forschungsstation Vernadsky. Die Adelie-Population wird zusehends kleiner, wie Wissenschaftler beobachtet haben. Auch wenn es nicht danach aussieht: Verantwortlich dafür soll die Klimaerwärmung in der Westantarktis sein. Fotos: jos

Brüten vor imposanter Kulisse: Adelie-Pinguine auf Petermann Island, eine kleine Insel nahe der urkrainischen Forschungsstation Vernadsky. Die Adelie-Population wird zusehends kleiner, wie Wissenschaftler beobachtet haben. Auch wenn es nicht danach aussieht: Verantwortlich dafür soll die Klimaerwärmung in der Westantarktis sein. Fotos: jos

Keiner sagt mehr ein Wort. Sie sind nicht eben riesig, die zwei Eisberge, die das Kreuzfahrtschiff in der Enge der antarktischen Lemaire-Straße in die Zange genommen haben. Aber groß genug, dass Kapitän Vladimir Vorobyof schreit. Ja brüllt - Steuer-Befehle, die die Crew-Mitglieder auf der Brücke kurz erstarren lassen. Wenn man bedenkt, dass gut das Siebenfache eines Eisbergs unter Wasser ist, dann treibt da gerade 30 Meter neben dem Bug ein Einfamilienhaus auf uns zu. Die Blicke der Crew wechseln hastig vom Eisberg zum Kapitän, vom Kapitän zum Steuermann, vom Steuermann zum Eisberg. Dichter, von Wind gehetzter Schneefall hat sich wie eine undurchsichtige Glocke über das Schiff gesenkt. Die nahen Felswände links und rechts verschwinden senkrecht in gespenstischem Grau. Und dann hören wir ihn. Kratzend und ächzend schiebt sich der Eisberg an dem Stahl der Schiffswand entlang. Vorobyof ist von der Brücke raus an die Reling gestürmt. Schnee bläst durch die offene Tür herein. Allmählich wird das Kratzen weniger. Dann steht Vorobyof wieder in der Tür. Er lächelt, erleichtert. Jetzt reden auf der Brücke alle durcheinander, einige schütteln dem Kapitän die Hand.

Am Morgen ist der Himmel düster von Wolken, das Meer fast schwarz. Zwischen Alpen-hohen Bergen ragen riesenhaft aufgetürmte Gletscherkanten ins Meer. Buckel-Wale blasen Fontänen in den schneidend kalten Wind. "Das ist nicht wie von dieser Welt. Man ist so völlig weg von allem, was man kennt", sagt Corinna. Die Mittvierzigerin aus Dessau sitzt dick eingepackt in einer windgeschützten Ecke auf dem Außendeck, auf den Knien ihr Tagebuch. "Ich komme gar nicht hinterher, das alles festzuhalten", sagt sie. Rund 350 Passagiere waren noch vor einer Woche in Buenos Aires in T-Shirts an Bord der "MS Delphin" gegangen. Jetzt bahnt sich das für Kreuzfahrt-Verhältnisse eher kleine Schiff bei Temperaturen um den Gefrierpunkt seinen Weg an der antarktischen Halbinsel entlang. "Eigentlich gehöre ich nicht zu den Leuten, die eine Kreuzfahrt machen", sagt Corinna. Sie arbeitet in einem Jobcenter. "Aber anders kommt man hier ja kostengünstig nicht hin." Tatsächlich passen die meisten Passagiere nicht in das Klischee von Kreuzfahrt-Touristen mit Ballkleid und Brosche. Auf der Passage von Südamerika zum siebten Kontinent durch eines der rauesten Seegebiete der Erde treffen sich Deutsche, Schweizer und Österreicher denn auch nicht zu Bingo oder Zaubershow, sondern um Experten-Vorträge etwa über das Artverhalten der Pinguine zu verfolgen.

Mitten auf dem Außendeck steht ein Mann in den 50ern, die Hände in den Parkataschen vergraben. Die Stirn in Falten blickt er aufs Meer, wo blau leuchtende Eisberge langsam nach Osten treiben. Sein Gesichtsausdruck ungläubig, fast ein wenig erschrocken. In seinem Rücken knattern in der Ferne leise Schlauchboote über die schwarzen Wogen und bringen Touristen in kleinen Gruppen zu einer Pinguin-Kolonie auf eine Insel. Am Horizont sieht man sie wie winzige Punkte an Land gehen. Hinter ihnen ragt ein Eispanzer, riesig wie eine Wolke, vor den Himmel. Am Südpol, noch gut 3000 Kilometer von hier, soll der Eispanzer auf dem Land bis zu 4000 Meter dick sein.

Als Corinna von der Anlandung zurückkommt, ist sie aufgekratzt. Ausgestattet mit Gummistiefeln, Überhose, Parka, Schwimmweste, Rucksack, Kameratasche, Mütze und Fäustlingen bewegt sie sich wie nach einer Mondlandung. "Das ist einfach irre. Man sieht alles, wovon sie in den Vorträgen erzählt haben: Wie die Pinguine brüten, wie sie ihre Jungen füttern, wie die Männchen Steine für die Nester sammeln. Ich hab' Unmengen von Bildern gemacht." Es sind tausende Tiere, die in den wenigen Wochen des antarktischen Sommers auf der Insel nisten. Obwohl die Reiseleiter streng darüber wachen, dass die Touristen den Pinguinen nicht zu nahe kommen, fällt es nicht immer leicht auszumachen, wer auf wen auf dem vereisten Boden zuwatschelt, um ihn neugierig in Augenschein zu nehmen. "Pinguine haben Vorfahrt" heißt es immer wieder. Bislang scheint es auch weniger der Tourist als vielmehr das Klima zu sein, was den Tieren zu schaffen macht.

Donnergrollen hallt über die Bucht. Rund 50 Köpfe drehen sich erschrocken zum spiegelglatten Meer herum, Blicke tasten eilig den Horizont ab. Langsam nur wird der Spalt größer, dann sieht man plötzlich unter lautem Knacken einen Eisberg mitten in der Bucht auseinanderbrechen. Wellen schwappen um die Eisflanken, die aus der Tiefe an die Meeresoberfläche stoßen. Wir sind in Port Lockroy angelandet, einer britischen Forschungsstation. Ein paar stabile Holzbaracken, die zwischen Felsen kauern. Innen hat man sich auf die in den Sommermonaten zunehmende Zahl von Touristen mit einem Souvenir-Shop eingestellt. Mit dem Verkauf von Stoff-Pinguinen, Schneekugeln und Baseball-Kappen mit der Aufschrift der Station bessern die Wissenschaftler ihre Kasse auf. "Wer hätte das gedacht" - Corinna schüttelt verächtlich den Kopf und beschränkt sich auf den Kauf einer Postkarte mit Pinguin-Motiv als Lesezeichen für ihr Tagebuch. Die Briten erzählen, dass die Zahl der auf der Karte abgebildeten Adelie-Pinguine rapide zurückgehe. "Sie mögen die Wärme nicht", erklärt eine junge Wissenschaftlerin aus Liverpool.

Knapp 400 Kilometer nördlich, auf der polnischen Forschungsstation Arctowski, berichtet die Biologin Anna Kidana das Gleiche. "Nicht nur manche Pinguin-Arten werden weniger, auch die Zahl der Wale nimmt ab", sagt die 55-jährige Warschauerin. Ein Laborexperiment auf der Station habe gezeigt, dass einen Anstieg der durchschnittlichen Meerestemperatur um drei Grad langfristig nur etwa ein Zehntel jeder Tierart in den antarktischen Gewässern überlebt. "Aber dass es wärmer wird", sagt Kidana und zuckt mit den Schultern, "das hat es in der Erdgeschichte immer wieder gegeben und ist ganz normal." Eine Sichtweise, die auch unter den Referenten an Bord des Schiffes verbreitet ist. "Klimaveränderungen sind natürliche Prozesse, die heute lediglich durch die Einwirkungen des Menschen verstärkt werden", sagt der Geologe Ludger Feldmann. Und dass die Pole abschmelzen, sei noch gar nicht ausgemacht. "In der Westantarktis schmilzt das Eis, ja. Aber in der um ein Vielfaches größeren Ostantarktis wächst die Eismasse, seit Jahren schon", erklärt er. Der Grund dafür sei noch unklar. "Trotzdem: So lange wir nicht wissen, welche Folgen unser hoher weltweiter CO2-Ausstoß hat, sollten wir ihn dringend reduzieren", fordert Feldmann. Zugute käme das am Ende auch dem Naturschutz in der Antarktis. Denn wenn die Welt auf erneuerbare und umweltfreundliche Energien setze, blieben die enormen Rohöl-Vorkommen rund um den Südpol womöglich auch nach Auslaufen des internationalen Antarktis-Vertrages im Jahr 2041 unangetastet.

Corinna hat einen Stuhl an die Reling gerückt, das aufgeschlagene Tagebuch balanciert sie auf ihren Knien. "Haben Sie auch die Horde See-Elefanten in der Nähe der Arctowski-Station gesehen? Einfach unglaublich", sagt sie zu einem Mitreisenden. Der Mann nickt. Schweigend blicken beide über das Meer. Am Horizont ziehen die schneebedeckten Rücken der Südshetland-Inseln vorüber. Ein Riesensturmvogel kreist lautlos über den tiefblauen Wellen. "Eigentlich", sagt Corinna nach einer Weile, "eigentlich gehören wir nicht hier her." Sie holt tief Luft: "Man kann nur hoffen, dass die Industrienationen so vernünftig sind, das alles hier zu lassen, wie es ist." Dann lacht sie. "Vielleicht sollten die Politiker mal in die Antarktis fahren. Man muss das hier wohl alles erst sehen, um zu verstehen, was es zu schützen gilt." Sie nickt, wie um sich selbst zu bestätigen, nimmt das Tagebuch von den Knien und klappt es zu. "Dass es wärmer wird, ist ganz normal."

Anna Kidana, Biologin der Arctowski-Station

 Brüten vor imposanter Kulisse: Adelie-Pinguine auf Petermann Island, eine kleine Insel nahe der urkrainischen Forschungsstation Vernadsky. Die Adelie-Population wird zusehends kleiner, wie Wissenschaftler beobachtet haben. Auch wenn es nicht danach aussieht: Verantwortlich dafür soll die Klimaerwärmung in der Westantarktis sein. Fotos: jos

Brüten vor imposanter Kulisse: Adelie-Pinguine auf Petermann Island, eine kleine Insel nahe der urkrainischen Forschungsstation Vernadsky. Die Adelie-Population wird zusehends kleiner, wie Wissenschaftler beobachtet haben. Auch wenn es nicht danach aussieht: Verantwortlich dafür soll die Klimaerwärmung in der Westantarktis sein. Fotos: jos

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