Laute Rufe nach Nothilfe

Brüssel · Die EU hat die Seenotrettung zurückgefahren – in der Annahme, dass Schleuser es schwerer haben und weniger Flüchtlinge die Überfahrt wagen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nun sterben immer mehr Menschen im Mittelmeer.

Es ist mitten in der Nacht, die Flüchtlinge in dem voll besetzten Fischerboot sind verzweifelt. Sie rufen um Hilfe, ein portugiesischer Frachter nähert sich. Die Migranten wollen die Retter erreichen und klettern auf eine Seite des Bootes. Daraufhin kentert ihr Schiff. Hunderte Menschen stürzen ins Meer und ertrinken. So rekonstruieren die Einsatzkräfte die erneute Flüchtlingstragödie im Mittelmeer , bei der bis zu 920 Flüchtlinge vor der Küste Libyens ertrunken sein könnten. Während anfangs von 700 Opfern die Rede war, gab Abends ein Überlebender an, dass die Zahl noch höher war. Viele Menschen seien im Laderaum eingeschlossen gewesen. "Die Schmuggler haben die Türen geschlossen und verhindert, dass sie herauskommen", erzählte der Mann, der in ein Krankenhaus in Sizilien gebracht worden war

Das Entsetzen in Italien und Europa ist groß. "Eine der größten Tragödien, die jemals im Mittelmeer geschehen ist", sagte Carlotta Sami vom UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

Im vergangenen Jahr war das Mittelmeer der mit Abstand tödlichste Ort für Flüchtlinge. Mehr als 3200 Menschen starben auf dem Weg von Afrika nach Europa - 75 Prozent aller Flüchtlingstoten weltweit, wie aus einer Studie der Internationalen Organisation für Migration hervorgeht. Laut deren Experten Federico Soda hat sich die Zahl der Toten in den ersten vier Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr verzehnfacht. "Dies ist unakzeptabel. Die Such- und Rettungsoperationen müssen umfassender unterstützt werden."

Die EU-Innenminister führten die steigenden Totenzahlen bisher nicht auf zu wenig, sondern zu viel Seenotrettung zurück. Der italienischen Operation "Mare Nostrum", die 140 000 Menschen aus dem Mittelmeer fischte, wurde auch von Bundesinnenminister Thomas de Maizière ein "Sog-Effekt" unterstellt, weil Schleuserbanden Flüchtlinge nur wenige Meilen aufs Meer hinausbringen müssten, wo sie dann mit großer Sicherheit gerettet würden. Auch aus Kostengründen wurde "Mare Nostrum" daher im Herbst durch die EU-Operation "Triton" ersetzt - mit dem tödlichen Unterschied, dass ihr Aktionsradius auf das italienische Hoheitsgewässer bis zu 30 Seemeilen von der Küste begrenzt wurde.

Die Annahme, dass damit die Zahl der Bootsflüchtlinge sinken würde, hat sich nicht bewahrheitet. "Menschenleben müssen gerettet werden", fordert nun Günter Burkhardt von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl: "Es ist völlig egal, ob dadurch Schlepper profitieren." Europäische Sozialdemokraten, Grüne und Linke riefen nach einem umfassenden Seenotrettungsprogramm. "Wer vor Krieg und Zerstörung flieht, den dürfen wir nicht weiter kriminellen Schleppern und den Launen des Mittelmeers überlassen", sagte die Grünen-EU-Abgeordnete Barbara Lochbihler. Ihre Parteichefin Simone Peters nannte die Tatenlosigkeit der EU eine "Schande". Der sozialistische Fraktionschef im EU-Parlament, Gianni Pittella, forderte "einen EU-Sondergipfel, der eine europäische Mare-Nostrum-Operation beschließt". Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, die die Flüchtlingspolitik kurzfristig auf die Tagesordnung des heutigen Außenministertreffens setzte, stellte fest: "Wir haben schon zu oft ,Nie wieder!' gesagt."

Die EU-Kommission verwies darauf, dass sie bereits an einer neuen europäischen Migrationsstrategie arbeite, die Mitte Mai präsentiert werden soll. Im Mittelpunkt stehen dabei eine bessere Zusammenarbeit mit den Transitländern speziell Nordafrikas und legale Einreisemöglichkeiten. Vor Ort soll überprüft werden, ob ein Asylanspruch in Europa besteht. In diesen von der UN betriebenen Lagern könnten aussichtslose Fälle dann in ihr Land zurückgeschickt, die übrigen aber ohne kriminelle Schlepper nach Europa gebracht werden. Doch abgesehen von einem Pilotprojekt im Niger ist dieser Ansatz noch Zukunftsmusik.

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