Gefängnis oder Pflegeheim?US-Behörden haben mehr als hundert Nazi-Täter abgeschoben

München. Großer Bahnhof für zweifelhafte Prominenz am Dienstag in München: An Bord eines Ambulanzflugzeugs landete am Vormittag um 9.15 Uhr aus den USA kommend der gebürtige Ukrainer John Demjanjuk auf dem Münchener Flughafen

München. Großer Bahnhof für zweifelhafte Prominenz am Dienstag in München: An Bord eines Ambulanzflugzeugs landete am Vormittag um 9.15 Uhr aus den USA kommend der gebürtige Ukrainer John Demjanjuk auf dem Münchener Flughafen. Nachdem ihm die vorläufige Festnahme erklärt worden war, wurde der 89-jährige mutmaßliche Kriegsverbrecher in einem Krankenwagen in die berüchtigte Justizvollzugsanstalt Stadelheim gebracht. Auftakt für einen der letzten großen Kriegsverbrecherprozesse?

In dem 21-seitigen Haftbefehl wird Demjanjuk für dringend verdächtig erklärt, von März bis September 1943 als Wachmann im polnischen SS-Vernichtungslager Sobibor in mindestens 29 000 Fällen Beihilfe zum Mord geleistet zu haben. Sofern Demjanjuk über seinen Münchener Pflichtverteidiger Günther Maull neue entlastende Argumente vortragen kann, würden die Ermittlungen fortgeführt, erklärte Oberstaatsanwalt Anton Winkler das weitere Vorgehen. Anderenfalls werde die Staatsanwaltschaft "voraussichtlich innerhalb weniger Wochen" Anklage erheben können. Die bayerische Justiz dürfte mit dem betagten Beschuldigten voraussichtlich eine Menge Probleme haben. Zweimal hat Demjanjuk die US-Staatsbürgerschaft erworben und wieder verloren und ist jetzt staatenlos: "Amerika nimmt ihn nicht zurück, und sonst nimmt ihn auch keiner", so Verteidiger Maull: "Es will ihn keiner haben." Ob schuldig oder nicht, Demjanjuk wird dem deutschen Steuerzahler zur Last fallen. Maull riet bereits, sich schon einmal nach einem Platz in einem Pflegeheim umzusehen.

Ob der Prozess überhaupt in Gang kommt, ist zweifelhaft. Myelodysplasie, eine Vorform von Leukämie, ist nur eine Position auf einer langen Liste der Leiden Demjanjuks. Natürlich wird sein Verteidiger Prozessunfähigkeit geltend machen, obwohl kürzlich ein Video auftauchte, die seinen Mandanten in rüstiger Bewegung zeigte.

Die Staatsanwaltschaft tut zwar so, als sei die Beweislage klar, aber mehr als ein für den "Hilfswilligen" Iwan Demjanjuk ausgestellter Dienstausweis aus dem Ausbildungslager Trawniki mit der Nummer 1393 ist als Beweisstück bislang nicht bekannt geworden. Der Ausweis vermerkt, dass Demjanjuk am 27. März 1943 nach Sobibor "abkommandiert" wurde. Auch der heute 82 Jahre alte Lager-Insasse Thomas Blatt, der in dem Prozess gegen Demjanjuk als Nebenkläger auftreten will, kann sich an den ukrainischen Kollaborateur nicht erinnern.

Kollaboration mit Deutschen

Seine Vergangenheit hatte Demjanjuk schon mehrfach eingeholt. Der zu seiner Familie in die USA emigrierte Ukrainer war als sowjetischer Soldat 1942 auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Um sich vor dem höchstwahrscheinlichen Tod in einem deutschen Kriegsgefangenenlager zu retten, erklärte sich der 20-Jährige zur Kollaboration mit den Deutschen bereit. Im Ausbildungslager "Trawniki" wurde Demjanjuk zusammen mit anderen Ukrainern, Letten, Esten, Litauern und Polen als SS-Wachmann ausgebildet. Nach dem Krieg geriet er in Verdacht, als "Iwan der Schreckliche" Greueltaten im polnischen KZ Treblinka verübt zu haben. Die USA entzogen ihm darauf die Staatsbürgerschaft und lieferten ihn 1986 nach Israel aus, wo er 1988 zum Tode verurteilt wurde. Sechs Jahre saß er in der Todeszelle, bis beim Zusammenbruch der Sowjetunion entlastende Dokumente bekannt wurden. 1993 wurde das Todesurteil aufgehoben, und Demjanjuk kehrte wieder in die USA zurück, von denen er erneut die Staatsbürgerschaft erhielt. 2002 wurde ihm erneut die US-Staatsbürgerschaft aberkannt. Erst dadurch geriet der inzwischen Hochbetagte ins Visier der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg als Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor. Danach soll Demjanjuk noch Wachmann in KZ Flossenbürg gewesen sein, wo ihm jedoch keine Verbrechen zur Last gelegt werden.

Demjanjuk sei einer der "kleinsten der kleinen Fische" gewesen, urteilte in der "FAZ" der emeritierte Strafrechtslehrer Christiaan Rüter. Washington. Der frühere KZ-Wächter John Demjanjuk zählt zu den bekanntesten NS-Tätern, die bislang aus den USA abgeschoben wurden. Er ist aber längst nicht der einzige. Die US-Behörden haben 107 Menschen abschieben lassen, seit das Justizministerium vor 30 Jahren eine Abteilung für die Identifizierung untergetauchter NS-Täter gegründet hat. Dieses Office of Special Investigations (OSI, "Amt für Sonderermittlungen") verfolgt das Ziel, eingebürgerten Tätern vor Gericht die US-Staatsbürgerschaft aberkennen zu lassen, um dadurch ihre Ausweisung zu ermöglichen.

Alarmiert von Berichten, dass hunderte von Nazi-Tätern in den USA Unterschlupf gefunden hatten, verabschiedete der US-Kongress 1978 ein Gesetz zu deren juristischer Verfolgung. Es schreibt die Ausweisung all jener vor, die zwischen 1933 und 1945 an "Verfolgung, Völkermord, Folter oder außergesetzlichen Tötungen" unter dem Nazi-Regime teilgenommen hatten. Unter Präsident George W. Bush wurde der Geltungsbereich des Gesetzes 2004 auf alle Menschen ausgeweitet, die im Ausland in Menschenrechtsverletzungen verwickelt waren und danach die US-Staatsbürgerschaft erhalten haben. Die Ausbürgerung der enttarnten Täter ist nur eine juristische Notlösung. Denn die eigentlichen Verbrechen kann die US-Justiz nicht ahnden, da die Täter zum Zeitpunkt ihrer Vergehen noch nicht US-Bürger waren, die Taten nicht in den USA begangen wurden und die Opfer keine US-Bürger waren. Deshalb fallen die Verbrechen etwa von KZ-Wächtern in der Regel nicht in den Zuständigkeitsbereich der amerikanischen Strafjustiz.

Um doch noch Verurteilungen zu ermöglichen, sollen überführte Täter laut OSI bevorzugt in solche Länder abgeschoben werden, wo sie vor einem Gericht tatsächlich für das begangene Unrecht belangt werden können. afp

Meinung

Demjanjuk wirft viele Fragen auf

Von SZ-Mitarbeiter

Ralf Müller

Mit einem beachtlichen Aufwand hat die Münchener Justiz den 89-jährigen kranken Demjanjuk nach Deutschland geholt, um ihm auf der Grundlage eines Dienstausweises den Prozess zu machen. Mord verjährt nach deutschem Recht nicht. Im Falle Demjanjuk gibt es freilich viele "Aber": So hat ihn sogar die israelische Justiz wieder laufen lassen, weil seine Identität nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte. Konkrete Greueltaten dürften Demjanjuk nur schwer nachweisbar sein, weshalb allein die Wachtätigkeit im Vernichtungslager Sobibor zur Verurteilung ausreichen müsste. Demjanjuk ist womöglich eher ein unfreiwillig-freiwilliger Handlanger der Massenmörder, also ein kleiner Fisch. Ob er prozess- und dann haftfähig ist, erscheint fraglich.

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