Über Assange entscheiden jetzt nicht mehr die Richter

London. Julian Assange ist wieder auf der Bühne! Seit acht Wochen ist er in der Botschaft Ecuadors im feinen Londoner Westend-Viertel Knightsbridge untergetaucht, seit acht Wochen weiß kaum jemand, was der weißblonde Australier dort in seinem kleinen Zimmerchen eigentlich tut

 Längst geht es nicht mehr nur um Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange. Über sein Schicksal streiten nun mehrere Staaten. Foto: Arrizabalaga/dpa

Längst geht es nicht mehr nur um Vergewaltigungsvorwürfe gegen Julian Assange. Über sein Schicksal streiten nun mehrere Staaten. Foto: Arrizabalaga/dpa

London. Julian Assange ist wieder auf der Bühne! Seit acht Wochen ist er in der Botschaft Ecuadors im feinen Londoner Westend-Viertel Knightsbridge untergetaucht, seit acht Wochen weiß kaum jemand, was der weißblonde Australier dort in seinem kleinen Zimmerchen eigentlich tut. Jetzt hat ihm die Regierung von Ecuador einen echten Freundschaftsdienst erwiesen: Assange bekommt politisches Asyl in dem südamerikanischen Land.Man wolle ihn vor Verfolgungsrisiken vor allem in den USA schützen, sagte gestern Außenminister Ricardo Patiño in der Hauptstadt Quito. Das ist zumindest eine Geste, auch wenn Assange weiter festsitzt und bei Verlassen der Vertretung jederzeit festgenommen werden kann. Den Australier verbindet eine Freundschaft zu Ecuadors Präsident Rafael Correa, der als USA-Kritiker gilt.

Ecuador hat spätestens mit diesem Schritt den Fall Assange auf eine neue Ebene gehievt. Nicht mehr Richter und Staatsanwälte diskutieren über den Gründer der Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks, sondern Regierungen und Diplomaten. Die Gespräche finden zwischen Ecuador, Schweden, Großbritannien und wahrscheinlich auch den USA statt. Jeder will seine Interessen durchsetzen, jeder will sein Gesicht wahren. Assange kann das nur recht sein: Er und seine Anwälte um den spanischen Menschenrechtler Baltasar Garzón lauern auf einen Fehler, den er für sich ausschlachten kann.

Der erste dürfte gestern den Briten unterlaufen sein. Das Außenministerium in London grub ein fast schon vergessenes Gesetz aus dem Jahr 1987 aus, mit dem einst die libysche Botschaft in London nach der Ausweisung der Diplomaten wieder in britischen Besitz überführt werden sollte. Auf dessen Grundlage könne man in die Botschaft Ecuadors eindringen, drohten die Briten offen dem südamerikanisichen Land. Die Folge war ein Aufschrei: "Die Kolonialzeit ist vorbei", polterte Außenminister Ricardo Patiño in Quito.

Und auch britische Diplomaten schüttelten den Kopf über die diplomatische Unvorsichtigkeit. "Das war wohl ein Fehler", sagte der ehemalige britische Botschafter in Moskau, Tony Brenton, in der BBC. Man stelle sich nur vor, andere Länder würden sich das britische Beispiel zum Vorbild nehmen und entgegen den Bestimmungen der Wiener Konvention von 1961 in die diplomatischen Vertretungen anderer Länder eindringen. "Das kann sogar eine Gefahr für unsere Diplomaten im Ausland darstellen", sagte Brenton.

Das Außenministerium in London ruderte noch gestern zurück. Man sei enttäuscht darüber, dass Assange nun Asyl gewährt worden sei. Man hoffe aber weiterhin auf eine "Verhandlungslösung", die es Großbritannien erlaube, seine Verpflichtungen aus der Auslieferungsgesetzgebung zu erfüllen. Dennoch reagierte Ecuador verschnupft. Der sichtlich verärgerter Außenminister kündigte an, er werde die Außenminister der südamerikanischen Länder zusammentrommeln, um eine gemeinsame Haltung zum Verhalten Londons zu erarbeiten. Der Unterstützung des britischen Erzfeindes Argentinien kann er sich schon einmal gewiss sein. Ecuador hatte in den vergangenen Wochen versucht, auf diplomatischem Wege einen Kompromiss im Fall Assange hinzubekommen. Die schwedischen Behörden lehnten es aber ab, nach London zu reisen, um Assange in der britischen Hauptstadt zu verhören. Ein ähnliches Angebot hatte es vor anderthalb Jahren schon einmal gegeben. Damals wäre Assange nach eigener Aussage bereit gewesen, in die schwedische Botschaft zu kommen, um sich vernehmen zu lassen. Für seine Unterstützer nährt diese schwedische Weigerung die Theorie, es gehe in Skandinavien längst nicht nur um Vergewaltigungsvorwürfe. "Julian ist kein Vergewaltiger", sagt sein Freund Vaughan Smith, bei dem er 13 Monate lang gewohnt hatte, als er während seines Auslieferungsverfahrens gegen Kaution auf freiem Fuß war. "Er hat bei mir gewohnt, zusammen mit meiner Frau und meiner Tochter", sagte Smith in der BBC.

Unterstützung erhielt Assange auch von Netzaktivisten der Anonymous-Bewegung. Die rief gestern ihre Anhänger dazu auf, sich vor der Botschaft Ecuadors in London zu versammeln. "Wenn Ihr gerade in London seid oder dort jemand kennt: Begebt Euch jetzt zur ecuadorianischen Botschaft", forderte Anonymous im Kurzmitteilungsdienst Twitter. "Jetzt ist es Zeit." In anderen Äußerungen aus Kreisen der Anonymous-Bewegung wurde die Entscheidung Ecuadors begrüßt, Assange Asyl zu gewähren. Scharf kritisiert wurde hingegen die Haltung der britischen Regierung, die über mehrere gerichtliche Instanzen hinweg beschlossene Auslieferung Assanges nach Schweden durchzusetzen.

Bis es eine Lösung gibt, sitzt Assange weiter in der Falle - und die britischen Behörden stecken in einer Zwickmühle. Geben sie dem Australier kein freies Geleit, bleibt es bei der Patt-Situation. Gewähren sie es ihm, brechen sie ihre Verpflichtung, den von der schwedischen Staatsanwaltschaft erwirkten EU-weiten Haftbefehl gegen Assange zu vollstrecken. Der Fall Assange bleibt vertrackt. "Die Kolonialzeit ist vorbei."

Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño

zur Ankündigung Londons, notfalls mit Gewalt in die ecuadorianische Botschaft einzudringen

Hintergrund

Julian Assange soll bei einem Besuch in Schweden im August 2010 Sex mit zwei jungen Frauen gehabt haben. Der Geschlechtsverkehr war - so weit sind sich alle Seiten einig - grundsätzlich einvernehmlich. Die Frauen machten hinterher aber geltend, sie hätten gewollt, dass Assange ein Kondom benutzt. Dies habe er verweigert. In einem Fall, das wird aus den Vorwürfen der schwedischen Staatsanwaltschaft deutlich, soll sich Assange einer der Frauen im Schlaf genähert haben. Das kann nach schwedischem Recht als Vergewaltigung gewertet werden.

Assange selbst sagte im Herbst 2010, die Frauen seien "nervös geworden", weil sie Angst vor der Übertragung von Geschlechtskrankheiten bekommen hätten. Nach übereinstimmenden Medienberichten versuchten die beiden, den Australier zu einer Untersuchung zu bewegen.

Dies soll er verweigert haben. Daraufhin wandten sich die Frauen ratsuchend an eine befreundete Polizistin. Diese brachte die Ermittlung ins Rollen. Vor acht Wochen flüchtete Assange dann in die Londoner Botschaft Ecuadors. dpa

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