Eine atomfreie Reserve soll es richten Behörde verschläft Betrieb des Kraftwerks Ensdorf

Berlin. Für manchen Koalitionspolitiker war der Begriff "Kaltreserve" neu, als er im Frühjahr in Berlin kursierte. "Bisher kannte ich nur die Kaltschale, und die mochte ich auch noch nie", spottete ein führender Unionsvertreter

 Das Kraftwerk Ensdorf wird entgegen anderslautenden Ankündigungen nicht als Kaltreserve dienen. Foto: Ruppenthal

Das Kraftwerk Ensdorf wird entgegen anderslautenden Ankündigungen nicht als Kaltreserve dienen. Foto: Ruppenthal

Berlin. Für manchen Koalitionspolitiker war der Begriff "Kaltreserve" neu, als er im Frühjahr in Berlin kursierte. "Bisher kannte ich nur die Kaltschale, und die mochte ich auch noch nie", spottete ein führender Unionsvertreter. Nachdem klar geworden war, dass im Zuge der Energiewende gerade im Winter Stromengpässe drohen, gab es die Idee, eines der acht abgeschalteten Atomkraftwerke als kalte Reserve in Bereitschaft zu halten. Doch zur Freude der Atomgegner wird daraus nichts - ein milliardenteurer Blackout kann nach Meinung der Bundesnetzagentur auch ohne Reaktivierung eines Atommeilers vermieden werden.Die Bundesnetzagentur stellte seit Juni eine Liste mit alten Kraftwerken über 20 Megawatt Leistung auf, die bei wenig Sonne und Wind und gleichzeitig hohem Stromverbrauch als Reserve zur Verfügung stehen könnten. Der 45 Jahre alte Block 3 des Kohlekraftwerks Mannheim, das Gaskraftwerk 2 Mainz-Wiesbaden und Block 3 des Kohlekraftwerks Ensdorf sollen dabei helfen, gerade die sichere Versorgung im Rhein-Neckar-Raum im Notfall zu gewährleisten. Dass Ensdorf dabei gar nicht in Frage kommt, hat man wohl übersehen (siehe nebenstehenden Text). Hinzu kommen die Mineralölraffinerie Oberrhein und das Gaskraftwerk Freimann in München als Absicherung. Das macht zusammen 1009 Megawatt an Leistung aus. Mit sicheren Zusatzreserven in Österreich von 1075 Megawatt bekam man die nötigen 2000 Megawatt als Puffer zusammen.

Aber Matthias Kurth, Präsident der Bundesnetzagentur, macht klar, dass die Situation über Jahre "sehr ernst" bleibe, denn mit einem Schlag fielen in diesem Jahr rund 8000 Megawatt an Leistung aus Kernkraftwerken weg. Und die Sonne scheint gerade im Winter kaum, daher sind Anlagen mit berechenbarer Leistung für die Versorgung im hessischen Raum und in Süddeutschland so wichtig. Der von der Regierung in die Pflicht genommene SPD-Mann Kurth spart in Sachen Atomausstieg nicht mit Mahnungen an die Politik: "Wir können nicht ständig weiter abschalten, bevor wir was Neues zuschalten können." Kurth verweist auf die Probleme mit dem angeblichen Zauberstahl T24, der den Wirkungsgrad bei neuen Kohlemeilern erhöhen soll. Doch Risse im Dampfkessel dürften die Inbetriebnahme im Kraftwerk Duisburg-Walsum verzögern. Auch weitere Neubauten, wo T24 verwendet wurde, könnten erst später in Betrieb gehen. "Ich halte die Luft an, dass es in den anderen Kraftwerken nicht zu solchen Problemen kommt", sagt Kurth.

Und dann sind da die juristischen Auseinandersetzungen, etwa beim Eon-Kohlekraftwerk Datteln. Kurth rät dringend zur Genehmigung des Weiterbetriebs der Blöcke 1 bis 3 (303 Megawatt) bis zur Fertigstellung von Datteln 4 (1055 Megawatt). Alles hängt mit allem zusammen: Wenn Datteln 4, das auch Bahnstrom liefern soll, nicht rasch in Betrieb gehen kann, könnte die Bahn als einer der größten Stromverbraucher im Winter 2012/2013 auf mehr Strom aus Süddeutschland angewiesen sein. Dies könne dort die Lage dann noch problematischer machen.

Seit dem Moratorium infolge der Atomkatastrophe von Fukushima wurde Deutschland vom Stromexport- zum Importland. In den kommenden Monaten wird diese Entwicklung zur Bewährungsprobe, wenn mehr Strom verbraucht und weniger Ökostrom produziert wird sowie Importe etwa aus Frankreich wegen höheren Eigenbedarfs als Absicherung wegfallen.

Besonders Baden-Württemberg hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder mehr Atomstrom oder mehr klimaschädliche CO2-Emissionen. Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) machte durch seine Entscheidung, dass bei Engpässen künftig fünf statt vier Blöcke des Großkohlekraftwerks Mannheim (GKM) Strom produzieren dürfen, den Weg frei für den Verzicht auf ein "Stand-By"-AKW. So wurde vermieden, dass der abgeschaltete Atommeiler Philippsburg I noch bis 2013 in Bereitschaft gehalten wird. Kurth will sich noch nicht festlegen, wie lange die Reserven in "Stand By" bleiben müssen.Berlin/Saarbrücken. Der Chef der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth, betonte gestern, man brauche kein Atomkraftwerk mehr anzufahren, um im Falle eines strengen Winters Stromausfälle zu vermeiden. Für die Stabilität des Netzbetriebes sollen zur Not Kohle- und Gaskraftwerke sorgen. Bei Engpässen reiche es, Block C des Kraftwerks Ensdorf, Block 3 des Großkraftwerks Mannheim, das Kraftwerk 2 in Mainz-Wiesbaden sowie das Kraftwerk Freimann in München und die Ölraffinerie Oberrhein anzufahren. So könne man in Süddeutschland bei Bedarf ein Gigawatt Strom bereitstellen, was 1000 Megawatt entspricht. Kurth verschwieg, dass das Kraftwerk Ensdorf "als Kaltreserve" nicht mehr zur Verfügung steht, da der Block 3 seit Verpachtung der VSE an Saarstahl wieder Strom liefert.

Auf Anfrage unserer Zeitung musste gestern Rudolf Boll, Leiter der Pressestelle der Bundesnetzagentur, einräumen, dass die Grundlagen für die Erkenntnisse der Bundesnetzagentur aus dem Mai 2011 stammen. Zu dieser Zeit war das Kraftwerk Ensdorf noch nicht am Netz. Eine Wieder-Inbetriebnahme von Ensdorf könne dazu beitragen, mögliche Stromausfälle im Rhein-Main-Gebiet zu verhindern, hieß es im Mai ergänzend. Wie es dazu kommen konnte, dass die Bundesnetzagentur gestern deutschlandweit verbreitete, das Kraftwerk Ensdorf stünde "in Kaltreserve" zum Wiederanfahren zur Verfügung, konnte auch der Chef der Pressestelle nicht schlüssig erklären. Zumal der aktuelle Stand im schriftlichen Bericht der Behörde "zu den Auswirkungen des Kernkraftausstiegs auf die Übertragungsnetze und die Versorgungssicherheit" vom 31. August 2011 auf den Seiten 33 und 34 korrekt wiedergegeben ist.

Pressechef Bohl bemühte sich gegenüber unserer Zeitung persönlich um die richtigen Schlussfolgerungen: Dank der Wiederinbetriebnahme des Blocks 3 sei es gelungen, die Stromlücke von 1000 auf 700 Megawatt zu senken. Es sei nicht entscheidend, wo Ensdorf den Strom hinliefert. Entscheidend sei, dass das Kraftwerk in Betrieb ist und dadurch die Stromlücke geringer wird. Tim Hartmann, Vorstand der VSE, freute sich gestern über so viel bundesweite Beachtung. Und zeigte Humor. Auf Anfrage unserer Zeitung meldete er sich gestern am Telefon mit den Worten: "Hier spricht die Abteilung Deutsche Kraftwerksreserve." Seriös betrachtet sei eine Schlussfolgerung angebracht. Man könne in Deutschland nicht gleichzeitig auf zweierlei verzichten: Atomkraft und Kohlekraftwerke. Deshalb werde man "Kohlekraftwerke zur nationalen Energieversorgung noch sehr lange brauchen", so Hartmann. Dieser freut sich gleichzeitig diebisch über das Verhalten der Bundesnetzagentur: "Noch nie hat jemand selbst so eindeutig die Notwendigkeit der Versorgungssicherheit durch Kohlekraftwerke unterstrichen wie die Bundesnetzagentur." ts

Meinung

Zu viel

der Ehre

Von SZ-RedakteurThomas Sponticcia

 Das Kraftwerk Ensdorf wird entgegen anderslautenden Ankündigungen nicht als Kaltreserve dienen. Foto: Ruppenthal

Das Kraftwerk Ensdorf wird entgegen anderslautenden Ankündigungen nicht als Kaltreserve dienen. Foto: Ruppenthal

Über Nacht erzielt das Saarland bundesweit einen positiven Bekanntheitsgrad, den sich jeder Marketing-Experte für seine Region wünschen würde. Das Saarland als Retter der nationalen Energiereserve. So verkündet es die Bundesnetzagentur, die dem Bundeswirtschaftsminister unterstellt ist. Denn, so die Behörde: Würde man "als Kaltreserve" das Kraftwerk Ensdorf wieder ans Netz nehmen, könne die Stromlücke nach der Abschaltung der Kernkraftwerke geschlossen und könnten Stromausfälle im Winter verhindert werden. Tolle Sache! Nur: Ensdorf ist längst wieder am Netz. Die Zahlen der Behörde sind veraltet. Bei der VSE freut man sich über so viel Beachtung. Und Umweltministerin Simone Peter hat sich beeilt, die Erkenntnisse der Bundesnetzagentur zu begrüßen. Um erst später ihre Pressemitteilung zu korrigieren. Deshalb: Nicht schnell schießen. Erst prüfen, ob die Fakten stimmen.

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