Arm bleibt arm, Reich bleibt reich

Saarbrücken · Die soziale Marktwirtschaft, Deutschlands einstiges Heiligtum, existiere nicht mehr. Stattdessen regiere die Verteilungsungerechtigkeit. In seinem neuen Buch sieht Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, daher viel Anlass zur Sorge.

 In unserem System bleiben Menschen auf der Strecke. Unser Foto zeigt einen Obdachlosen in Hannover. Foto: Barbora Prekopova / dpa

In unserem System bleiben Menschen auf der Strecke. Unser Foto zeigt einen Obdachlosen in Hannover. Foto: Barbora Prekopova / dpa

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Dieses Buch bietet sozialen Sprengstoff. Schon in der Einleitung lesen wir, dass in kaum einem anderen Industrieland der Welt "Chancen, aber auch zunehmend Vermögen und Einkommen ungleicher verteilt" sind. Diese Bilanz zieht nicht etwa ein linker Wirtschaftstheoretiker, sondern der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher. Das Berliner DIW ist nicht irgendein deutsches Forschungsinstitut, sondern das größte.

Fratzschers Befunde, die er durch zahllose Statistiken und Grafiken zu untermauern sucht, sind alarmierend: 1) Die Vermögensungleichheit in Deutschland ist annähernd so groß wie in den USA. Demnach entfallen gut 63 Prozent des gesamten hiesigen Nettovermögens auf die reichsten zehn Prozent der Deutschen - mehr als in jedem anderen Land Europas. 2) Fast nirgendwo beeinflusst die soziale Herkunft das spätere Einkommen in vergleichbarer Weise wie hierzulande, was Fratzscher schlussfolgern lässt: "Das Schicksal vieler Deutscher ist bereits im Kindesalter besiegelt." Die fehlende Chancengleichheit bezeichnet er denn auch als "Deutschlands größtes Problem". 3) Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen der Deutschen zu den höchsten weltweit gehört, verfügt ein deutscher Haushalt mit im Schnitt knapp 50 000 Euro über weniger als die Hälfte des privaten Nettovermögens (sprich abzüglich Schulden und Krediten) vergleichbarer Haushalte in Europa (110 000 Euro im Schnitt).

Und das im Land der "Sparweltmeister"? Wie ist das möglich, dass ausgerechnet die Deutschen so wenig Vermögen anhäufen? Zumal gleichzeitig die Privatverschuldung dort, wie Fratzscher betont, etwas geringer ist als im europäischen Vergleich. Hauptsächlich aus drei Gründen: Zum einen sind 40 Prozent der Deutschen wirtschaftlich außerstande, irgendein Vermögen aufzubauen. Zum anderen legen die Deutschen ihr Erspartes schlecht an, behauptet der DIW-Präsident. Meist in Spareinlagen, die nichts bringen, statt in Aktien oder Immobilien (nur 40 Prozent der Deutschen verfügen über eine Immobilie). Nach Berechnungen des DIW sank das reale, inflationsbereinigte Nettovermögen im Schnitt seit 2002 um abenteuerliche 15 Prozent. Hinzu kommt als dritter Grund der im europäischen Vergleich ungleich höhere Vermögensverlust der Deutschen infolge von Kriegszerstörungen und 40 Jahren Sozialismus im Osten.

Die soziale Kluft wird größer

Die Gründe für die deutsche Verteilungsungerechtigkeit, den roten Faden in Fratzschers Bestandsaufnahme, sind mithin vielfältig: Während etwa seit der Jahrtausendwende die Arbeitnehmergehälter nur um gut sechs Prozent anstiegen, wuchsen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen um knapp 30 Prozent. Ein Zusammenhang, den der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem 2015 erschienenen Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" so pointiert wie nuanciert herausgearbeitet hat: Die wachsende Kluft zwischen Kapitalrendite und Lohnentwicklung ist auch für Fratzscher der Schlüssel zum Verständnis finanzieller (und damit sozialer) Ungleichheit. Insbesondere, weil Arbeit in Deutschland ungleich stärker besteuert wird als Vermögen. Während nur 0,8 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung "durch vermögensbezogene Steuern erhoben" würden, seien es in den OECD-Ländern immerhin 1,8 Prozent.

Fratzschers holzschnitthafte Diagnose des Patienten Deutschland fällt deutlich aus: "Nirgendwo bleibt Arm so oft arm und Reich so oft reich." Die geringe Herkunfts- und Einkommensmobilität potenziere die soziale Ungleichheit. Die Armutsquote wächst. Auch wenn staatliche Sozialleistungen (Renten, Arbeitslosen-, Pflege- und Kindergeld) das soziale Gefälle erheblich mindern. Die Lösungen, die der DIW-Präsident propagiert, sind enttäuschend konventionell: Mehr Chancengleichheit durch Abbau von Sozialbarrieren und Investionen in Bildung. Ein alter Hut. Ebenso wenig wie Marcel Fratzschers Antworten überzeugt der Titel seines Plädoyers: Von einem "Verteilungskampf" ist in Deutschland nichts zu sehen. Gerade dass er trotz aller sozialen Schieflagen ausbleibt, hätte man gerne einmal analysiert gesehen.

Marcel Fratzscher: Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird. Hanser, 264 Seiten, 19,90 €.

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