„Wachstum wird sich verlangsamen“

Berlin · Durch ihren hohen Exportanteil von 18 Prozent nach Großbritannien wird die Saar-Industrie durch den Brexit direkt getroffen. Die IHK geht deshalb von einem geringeren Wachstum aus.

Ein schwarzer Tag für die Wirtschaft?

Hüther: Ein schwarzer Tag für Europa. Der Kontinent wird in der Welt künftig weniger Einfluss haben. Das hat natürlich wirtschaftliche Konsequenzen. Das Wachstum wird sich verlangsamen. Immerhin 20 Prozent des Bruttosozialprodukts der EU entfallen auf Großbritannien. Die sind dann außen vor.

Wer zahlt am meisten für den Brexit?

Hüther: Sicher die Briten. Nach unseren Berechnungen muss sich die Insel auf einen nachhaltigen Einbruch ihres Bruttosozialprodukts um zehn Prozent einstellen. Das ist schon happig.

Und die deutsche Wirtschaft?

Hüther: Großbritannien ist der drittstärkste Nachfrager nach deutschen Produkten. Daran wird sich vielleicht kurzfristig nicht so viel ändern. Aber eine Schwächung der Nachfrage ist unausweichlich. Und das wird auch die deutsche Exportwirtschaft merken. Ein positiver Umstand für uns ist, dass wir Produkte wie Autos oder Maschinen liefern, auf die Großbritannien angewiesen ist. Auch zeigt das Beispiel China, dass Deutschland trotz nachlassender Dynamik auf dem asiatischen Markt in der Lage ist, sein Exportvolumen zu steigern.

Was passiert mit den 2500 Niederlassungen deutscher Firmen in Großbritannien?

Hüther: Wenn der Markt dort an Attraktivität verliert, sind Rückverlagerungen nach Deutschland nicht ausgeschlossen.

Deutschland könnte also auch vom Brexit profitieren?

Hüther: Es gibt die begründete Erwartung, dass der Finanzplatz London an Bedeutung verliert und Frankfurt als Sitz der Europäischen Zentralbank und der deutschen Börse aufgewertet wird. Man muss auch sehen, dass der Londoner Finanzplatz eine Brückenfunktion zu den USA hat. Auch das könnte für Frankfurt eine neue Perspektive sein.

Was erwarten Sie von der Politik für die Verhandlungen zur wirtschaftlichen Entflechtung von Großbritannien und der EU?

Hüther: 60 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU und in Länder, mit denen die EU Außenhandelsabkommen hat. So betrachtet ist die EU in einer besseren Verhandlungslage als die Briten. London braucht eine Ersatzlösung für die mehr als 30 Außenhandelsabkommen, die namens der EU für Großbritannien mitverhandelt wurden. Diese Abkommen sind dann obsolet. Das wird für die Briten eine Herkulesaufgabe, wollen sie nicht in ein noch tieferes Loch fallen, als sie es sich jetzt gegraben haben.

Kann Großbritannien dabei auf Sonderkonditionen hoffen?

Hüther: Es darf keine Extrawürste geben, denn dann würden sich womöglich auch andere EU-Länder einen schlanken Fuß machen. Das wäre das schleichende Ende der EU.

Das vollständige Interview lesen Sie unter www.

saarbruecker-zeitung.de/

berliner-buero

Das überraschende Ja der Briten zu einem Austritt aus der EU hat Anlegern weltweit einen schwarzen Freitag beschert. Die Börsenkurse fielen von Asien bis Europa oft im zweistelligen Bereich; Billionen wurden so binnen Stunden vernichtet. Das britische Pfund stürzte auf den niedrigsten Stand seit 1985. Die Bank of England stellte mehr als 250 Milliarden Pfund (326 Milliarden Euro) bereit, um notfalls die Märkte zu stabilisieren. Der deutsche Leitindex Dax brach kurz nach Handelsstart um rund zehn Prozent ein, fing sich aber im Lauf des Tages wieder etwas. Zum Handelsschluss stand er bei 9557 Punkten - ein Minus von noch 6,8 Prozent.

Die deutsche Wirtschaft reagierte mit Fassungslosigkeit auf das Votum. "Der Brexit ist ein Schlag ins Kontor", sagte der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer. Auch die Exportwirtschaft sprach von einer Katastrophe für Großbritannien, Europa und Deutschland. "Die Briten werden die Ersten sein, die unter den wirtschaftlichen Folgen leiden werden.", sagte der Chef des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. Der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbandes BDI , Markus Kerber, erwartet "in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel sind kaum zu erwarten." Besonders betroffen vom Brexit seien die Branchen Auto, Energie, Telekom, Elektronik, Metall, Einzelhandel und Finanzen. Der Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Clemens Fuest, mahnte an, dass Wirtschaft und Märkte rasch Klarheit bräuchten: "Die Politik muss jetzt alles tun, um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen." Kurz vor dem Brexit war die Stimmung in der deutschen Wirtschaft noch gut. Der Ifo-Geschäftsklima-Index stieg im Juni um 0,9 auf 108,7 Punkte, wie das Ifo-Institut mitteilte. "Der Aufschwung ist intakt", sagte Fuest. Wenn nur nicht der Brexit wäre. Der Brexit wird unmittelbare Auswirkungen auf die Saar-Wirtschaft haben. Das jedenfalls fürchtet die saarländische Industrie- und Handelskammer (IHK). Sie hat ihre Wachstumsprognose für das laufende Jahr daher von 1,5 Prozent auf ein Prozent revidiert. "Die jetzige Entscheidung für den Brexit ist ein Rückschlag für die Erholung der Konjunktur in ganz Europa", sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Heino Klingen. "Sie trifft die exportorientierte Saar-Wirtschaft in besonderem Maße." Die Saar-Wirtschaft hatte zwar in der aktuellen Umfrage zur Geschäftslage noch eine leicht positive Erwartung für die kommenden Monate geäußert, diese dürfte sich aber durch das Referendum deutlich eintrüben. Großbritannien steht mit Ausfuhren im Wert von 2,7 Milliarden Euro für 18 Prozent der Exporte des Saarlandes.

IHK-Präsident Richard Weber erwartet wegen der Unsicherheiten, die die kommenden Wochen mit sich bringen - unter anderen eine mögliche Abwertung des britischen Pfunds sowie einen schwächeren Absatz deutscher Produkte in Großbritannien. Oswald Bubel, Präsident der Vereinigung der Saarländischen Unternehmensverbände (VSU), spricht von einem großen Schaden für den "Vertiefungsprozess des europäischen Binnenmarktes". Jetzt hänge auch für die exportorientierte Saar-Wirtschaft viel davon ab, wie künftig die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien geregelt werden - "insbesondere mit welchen Erschwernissen und Verteuerungen die Unternehmen zu rechnen haben". Gleichzeitig gelte es jetzt, noch intensiver an der europäischen Idee zu arbeiten.

Wirtschaftsministerin Anke Rehlinger (SPD ) erwartet nun neue Bedingungen für die Außenwirtschaftsförderung, die das Saarland mit England angestoßen hatte. Als wichtiger Exportmarkt der Saar-Wirtschaft stand das Land im Fokus der Wirtschaftsförderung. Die geplante Vertiefung der Beziehungen "muss nun unter einem neuen Vorzeichen und wesentlich erschwerten Bedingungen versucht werden", sagt Rehlinger.

Peter Strobel , wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion , fürchtet nach der Entscheidung mittelfristig Probleme für zentrale saarländische Schlüsselindustrien. Er fordert deshalb, die Verhandlungen mit Großbritannien zu den künftigen Bedingungen des Außenhandels eng zu begleiten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort