Weise ernten Widerspruch

Berlin · Wohl eine Million Flüchtlinge werden in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Die sogenannten Wirtschaftsweisen fordern aber niedrigere Hürden für Flüchtlinge, damit diese einen Job bekommen. Die Vorschläge schmecken nicht jedem.

Deutschland kann die Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge nach Ansicht der "Wirtschaftsweisen" finanziell stemmen. Die bisher absehbaren Ausgaben seien verkraftbar, die deutsche Wirtschaft könnte profitieren. "Das kann Deutschland schultern - im Augenblick", sagte der Vorsitzende des Beratergremiums, Christoph Schmidt, gestern bei der Vorlage des Jahresgutachtens. Die Regierungsberater fordern niedrigere Hürden für eine Beschäftigung.

Vor allem im Gewerkschaftslager und bei linken Politikern ecken die Ökonomen - mit Ausnahme des Würzburger Wirtschaftsprofessors Peter Bofinger - einmal mehr an. Denn die "Weisen" arbeiten sich erneut am Mindestlohn ab. Und nicht nur das. Sie sind auch für die Abschaffung der Mietpreisbremse, flexible Werkverträge und Leiharbeit, und sie werben für das EU-USA-Handelsabkommen TTIP.

Die gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro je Stunde hat zwar nicht zu den von vielen Ökonomen vorhergesagten massiven Einbruch am Arbeitsmarkt geführt. Die Mehrheit der fünf "Wirtschaftsweisen" bleibt aber skeptisch - zumal es bisher ja nur Erfahrungen in wirtschaftlich guten Zeiten gebe, wie Schmidt anmerkt.

Der Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro je Stunde dürfte für viele Flüchtlinge eine hohe Barriere für Jobs darstellen. Von einer Erhöhung sei abzuraten. Anerkannte arbeitsuchende Flüchtlinge sollten von Beginn an als Langzeitarbeitslose gelten. Die Ausnahme vom Mindestlohn für Langzeitarbeitslose in einer neuen Beschäftigung sollte von sechs auf zwölf Monate verlängert werden. Praktika sollten zumindest bis zu einer Dauer von zwölf Monaten vom Mindestlohn ausgenommen werden. Ein nach Alter gestaffelter Mindestlohn könnte die Eintrittshürde für junge Erwachsene senken. Durch die Zuwanderung steige zudem die Nachfrage nach Wohnraum. Daher müssten private Investitionsanreize für den Wohnungsbau gestärkt und die Mietpreisbremse wieder abgeschafft werden.

Der Protest lässt nicht lange auf sich warten. "Unsinnig" seien die Vorschläge, "perfide" die Ideen der "Elfenbeinturm-Ökonomen", wettert der DGB. "Die Sachverständigen haben nach über zehn Monaten positiver Erfahrung immer noch keinen Frieden mit dem Mindestlohn gemacht", sagt DGB-Vorstand Stefan Körzell. Die Vorschläge öffneten dem Missbrauch Tür und Tor und spalteten die Gesellschaft.

SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil warnte davor, falsche Schlüsse in Bezug auf den Mindestlohn zu ziehen: "Niemand sollte versuchen, die Flüchtlingsdebatte für Lohndrückerei auszunutzen!"

Meinung:

Niedrigere Hürden

Von SZ-RedakteurVolker Meyer zu Tittingdorf

Der allgemeine Mindestlohn ist Gewerkschaften geradezu heilig. Sie quittieren jeden Vorstoß, der ihn aufweicht, mit wütender Abwehr. So auch jetzt die Vorschläge der Wirtschaftsweisen. Dabei sind die angedachten Ausnahmen vom Mindestlohn sehr bedenkenswert, weil moderat und gezielt. Den Ökonomen geht es darum, die Hürden für den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu senken. Und der Mindestlohn ist zweifellos eine solche Hürde, gerade für Langzeitarbeitslose und künftig auch für Hunderttausende Flüchtlinge . An dieser Stellschraube etwas zu drehen, wird aber nicht reichen. Darüber hinaus braucht es eine Qualifizierungsoffensive für die Neuankömmlinge wie für die einheimischen Dauerarbeitslosen. Dann wächst auch die Chance auf Jobs, die besser bezahlt sind als nur mit dem Mindestlohn .

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