"Texte haben ihre Stimmen"

Gute Romane reflektieren gesellschaftliche Umstände auf sehr direkte Weise. Vielleicht sind sie daher beliebter als Lyrik. Was kann ein Gedicht bewirken, was andere literarische Formen nicht können?Gomringer: Sich kurz fassen. Ehrlich, ich lese nicht gerne Romane

 In Neunkirchen geboren, doch längst in aller Welt zuhause: Nora Gomringer. Foto: Anny Maurer

In Neunkirchen geboren, doch längst in aller Welt zuhause: Nora Gomringer. Foto: Anny Maurer

Gute Romane reflektieren gesellschaftliche Umstände auf sehr direkte Weise. Vielleicht sind sie daher beliebter als Lyrik. Was kann ein Gedicht bewirken, was andere literarische Formen nicht können?Gomringer: Sich kurz fassen. Ehrlich, ich lese nicht gerne Romane. Wie die Malerei von der Fotografie "überholt" wurde, muss sich die prosaische Literatur ständig vom Film überholen lassen. Noch warte ich auf "neue" Romane, wie längst "neue" Bilder gefunden wurden. Ich wundere mich, dass gute, formal interessante, innovative Romane so selten sind.

Gibt es Sie denn?

Gomringer: Haruki Murakami und Roberto Bolaño können das. Stark ist, dass sie eigentlich an uralte Romantraditionen oder besser Langgedichtversionen anschließen. Ein Gedicht ist eine Erfindung, die aus Erfindungen besteht. Der Roman ist eine Selbstfindung. Das interessiert mich nicht so sehr.

Sie sind in Neunkirchen geboren, aber in Bayern aufgewachsen. Was verbindet Sie heute noch mit dem Saarland?

Gomringer: Die Erinnerungen meiner Brüder (Autoaufkleber: "Saarländer, es kann nur einen geben!") und die meiner Mutter, die mir vom Saarland vorschwärmen und von glücklichen Tagen dort erzählen. Heute bin ich ein Fan des Saarlandes, auch weil ich immer mehr Saarländern in der Welt begegne. Und auch Jo Enzweilers Institut für aktuelle Kunst des Saarlandes kann man nur bestaunen. Das ist großartig.

Ihr Vater Eugen Gomringer gilt als Begründer derKonkreten Poesie. Welche Rolle spielte er bei Ihrer Berufsfindung?

Gomringer: Ich denke, dass mein Vater gar nicht so viel damit zu tun hatte. Meine Mutter ist die strengere Schreibende und vor allem Lesende. Und so bin ich in einem Haus aufgewachsen, in dem die Literatur die Währung ist und Worte die Münzen sind. So gesehen sind wir - trotz der verhaltenen Wortanzahl bei der Konkreten Poesie - Millionäre. Durch das Vorlesen am Abend und den Klang der Stimmen meiner lesenden Mutter habe ich viel gespeichert und aufgenommen.

Ich bin - wie Sie - 1980 geboren. Nach meinem Eindruck gehören wir einer sehr verunsicherten Generation an, die mit der Kapitalisierung aller Facetten des Lebens zu kämpfen hat. Wie gehen Sie als Dichterin damit um?

Gomringer: Ich kapitalisiere mit. Irgendwie. Ich finde es fast schelmisch reizvoll zu sehen, wie weit ich aus der Lyrik und von ihr leben kann. Aber es stimmt natürlich. Verunsichert sind wir und auch irgendwie zu vorsichtig dadurch. Es hat mir geholfen, in den USA gelebt zu haben, wo einem das ein bisschen beigebracht wird: etwas darstellen und spielen.

Hat das Leben in den USA, Ihr Kontakt mit der dortigen Spoken-Word-Szene auch dazu beigetragen, dass Sie - anders als viele Dichter-Kollegen - gerne vor Publikum stehen?

Gomringer: Das Arbeiten ist die Klausur. Ich liebe das. Kann das aber nur selten erleben, weil ich viel "außen" arbeite. Ich leite Bayerns einziges staatliches Künstlerhaus und bin ständig in Bewegung für unsere Stipendiaten und die Sache. Meine eigene Sache steht dann hintenan. Dass sie nicht verschwindet, dafür muss ich durch gute Organisation und frühes Aufstehen sorgen. Das Auftreten mit meinen Gedichten ist etwas, was mir liegt. Da muss ich nicht viel spielen. Die Texte haben ja ihre Stimmen, ich muss sie nur richtig wählen, und dann laufen sie an ihren Schnürchen. Außerdem ist es schön, vor einem anonymen Publikum zu stehen. Das ist schöner, als wenn alle mit einem bekannt sind.

Bald werden sich hunderte saarländischer Schüler mit ihren Gedichten beschäftigen. Damit stehen Sie in einer Reihe mit Kästner, Kaléko, Busch, Eichendorff, die auch schon Gegenstand des "Wortsegel"-Wettbewerbs waren. Wie fühlt sich das an?

Gomringer: Ehrenvoll ist das. Und spannend. Mit den Texten geschieht so viel. Sie werden auf Theaterbühnen inszeniert und gesprochen, müssen im Abitur interpretiert werden, werden bunt übersetzt und derzeit so oft vertont, dass ich da den Überblick ein bisschen verliere. Das zeigt mir: Lyrik eignet sich. Und Lyriker sind gar nicht so randständig. Ich falle nicht um vor Ehrfurcht, denn es interessiert mich ja auch, was dabei herauskommt. Oft beschäftigen sich Leute mit Gedichten und sie tun ihnen Gewalt an, übersetzen sie schlampig, sind nicht einfühlsam mit der Sprache. Von daher hoffe ich, dass ich ein bisschen was von den Prozessen im Saarland mitbekomme und so auch meiner Geburtswelt näherrücke. Und die Reihe ist natürlich toll: Kästner, Kaléko, Busch, Eichendorff . . . Mindestens ein Gomringer sollte da aber schon dabei sein, damit wir das "Hier und Jetzt" markieren und weitermachen können, immer weiter.

Es heißt, mit dem Wettbewerb solle die "Kreativität der Schüler" gefördert werden. Kann die Schule mit ihren Lehrplan-orientierten Unterrichtseinheiten überhaupt Kreativität fördern?

Gomringer: Die Schule ist ein Ort, an dem wir so viel Zeit verbringen, der uns maßgeblich färbt, prägt, mitnimmt, einsteckt, fürchten und fliegen lehrt, dass wir es uns eigentlich nicht leisten können, unser aller Zeit dort zu vergeuden mit Quatsch. Lernen ist hart und es ist der Job der Kinder, sich so viel Wissen und so viele Wege und Weisen anzugewöhnen, wie sie eben können in den ersten Jahren. Lehrer müssen Schüler dafür respektieren. Ich war oft in Schulsystemen, wo viel Freude am Lernen und Lehren dadurch kam, dass Respekt und Höflichkeit - wenn auch nur als Floskeln - sichtbar "gehandelt" wurden. Das fehlt ein bisschen, ist aber da. Niemand ist konservativer als ein 16-jähriger Mensch. Das muss man wecken und knacken. Für mich war Schule - und ich habe sie mindestens zwei Jahre lang wirklich zum Kotzen gefunden - eine fantastische Waschstraße. Ich kam herrlich eingeseift in Wissen heraus.

Auf einen Blick

Nora Gomringer ist 1980 in Neunkirchen geboren. Ihre Mutter studierte an der Saarbrücker Uni, schrieb ihre Abschlussarbeit über den Lyriker Eugen Gomringer, den sie später heiratete. Nora Gomringer wächst in Bayern und zeitweise in den USA auf. Sie schreibt Lyrik, veranstaltet regelmäßige Poetry Slams und leitet seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg. Gomringer ist mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Jacob-Grimm-Preis und dem Joachim-Ringelnatz-Preis. Am16. November, 10 Uhr, gibt sie im Literaturarchiv (Beethovenstr. Zeile 6, Saarbrücken-Dudweiler) den Startschuss für den Schüler-Schreibwettbewerb "Wortsegel".jkl

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