Ein Seelenbademeister im Unterholz

Saarbrücken/Blieskastel · Lothar Wilhelm ist ein Urgestein im saarländischen Öko-Tourismus. Gerade ist ein von ihm initiiertes Biosphärenprojekt prämiert worden.

 „Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter“: Waldphilosoph Lothar Wilhelm (66) im Blieskasteler Forst. Foto: Oliver Dietze

„Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter“: Waldphilosoph Lothar Wilhelm (66) im Blieskasteler Forst. Foto: Oliver Dietze

Foto: Oliver Dietze

Hinter der Windschutzscheibe liegen lauter kleine Wildholzzweige. Fundstücke aus dem Unterholz. Nach Kirkel zuckelt Lothar Wilhelm in seinem VW-Transporter gemächlich mit 90 über die Autobahn. Es hat bei ihm nichts Erzieherisches, zum Glück. Es ist nur Ausdruck gelebter Entschleunigung. Im Wald zwischen Lautzkirchen und Blieskastel, wo der Wildholzbauer (und Waldphilosoph) Wilhelm seine Stuhlbaukurse abhält, hockt er später auf einem Baumstumpf, lauscht in die Kronen hinein und erzählt von Windwürfen, Astverläufen und Vogelstimmen. "Jeder Vogel hat eine Botschaft und gibt die an andere weiter." Bei Wilhelm steckt hinter solchen Sätzen keine Esoterik, zum Glück.

Schon als Kind hat der 66-Jährige, damals noch unweit von Kaiserslautern, sich oft im Wald herumgetrieben. Förster wollte er werden, machte dann aber eine Maschinenbaulehre. Am Tag, nachdem er die Gesellenprüfung bestanden hatte, verbrannte er seinen "Blaumann". Holte mittlere Reife und Abitur nach, studierte in Saarbrücken und Berlin Soziologie. "Wenn man die Gesellschaft ändern will, muss man sie kennen", sagt er und grinst sich einen in den Bart. Anschließend leitete er von 1987 bis 2000 das Modellprojekt "Sanfter Tourismus" der Naturfreunde Saar. Heute sagt er: "Wir waren damals zu früh mit dem, was wir wollten." Die Zeit war noch nicht reif für grüne Fußabdrücke und Ganzheitlichkeit.

Einen Preis bekam Lothar Wilhelm trotzdem dafür - 1992 den Umweltpreis des deutschen Reisebüroverbandes. "Das hat unvorstellbar viel Reputation gebracht", sagt er ein Vierteljahrhundert später. Quer durch die Republik hielt er damals Vorträge über Öko-Tourismus - so wurde aus dem Soziologen ein Botschafter ökologischer Nachhaltigkeit. Erst machte er mit Projekten wie "Rad and Art" und "Soziale Pedale" dem Radtourismus im Saarland Beine. Dann setzte er zu einer Zeit, als das Saarland noch kein Völklinger Weltkulturerbe kannte, bereits auf grenzüberschreitende Industriekultur, was ihn nebenbei auch zum Geschäftsführer des "Netzwerks Europäische Kultur der Arbeit" (1994 bis 2004) machte.

Zur Jahrtausendwende begründete Wilhelm dann das Konzept "Zentrum für Waldkultur" in der Scheune Neuhaus vor den Toren der Landeshauptstadt. Fünf Jahre lang sorgte er hier im Verein mit Künstlern und traditionellen Waldwerkern, mit Musikern und Spaziergangsforschern für kreative Interventionen. Gab dem Wald eine Bühne, einen Resonanzraum. Ehe nach der Landtagswahl 2004 dort andere Wege eingeschlagen wurden, weshalb Wilhelm fortan lieber als freiberuflicher Tourismusberater im spendablen Luxemburg weitermachte.

Dort, erzählt der graubärtige Slowfoodianer im Auto und schlägt lachend aufs Lenkrad, werde man bei Projektverhandlungen "Haben Sie noch weitere Ideen?" gefragt, im Saarland heiße es hingegen: "Können Sie das auch für die Hälfte machen?" In der Biosphärenregion Bliesgau aber, wo im Zeichen der Nachhaltigkeit (und auswärtiger Fördertöpfe) der Rotstift weniger nachhaltig als anderswo regiert, ist Lothar Wilhelm seit einer Weile aktiv. Mit Erfolg. Mit dem von ihm angestoßenen LEADER-Projekt "WaldWerken" ist die Biosphärenregion nun mit dem Programm "WaldkultUrlaub" einer von fünf Finalisten eines vom Deutschen Tourismusverband und dem Bundesumweltministerium ausgelobten Bundespreises. Zwei Monate Arbeit steckte man in den 40-seitigen Antrag "Nachhaltige Tourismusdestination 2017". Die Messlatte beim Thema Nachhaltigkeit lag hoch, gerade weil es heute zur Allerweltsmode verkommen ist: Die 27 republikweit eingereichten Projekte mussten daher einen umfänglichen Kriterienkatalog erfüllen - vom betrieblichen Umweltschutz über nachhaltiges Wirtschaften in Hotels bis zum Nachweis einer Sensibilisierung von Gästen für den regionalen ÖPNV. Fünf Preisträger gab es, einer davon ist die Bliesgauregion. Federführend präsentiert wurden im Antrag Wilhelms Wochenkurse zu Grün- und Wildholzbau, in denen Kinder und Erwachsene ihre eigenen Unikatmöbel bauen und sensibilisiert werden für naturnahe Waldbewirtschaftung und traditionelle Handwerkstechniken. "Wir sind nicht mehr bei Wellness, sondern bei Soulness", holt Wilhelm aus. Es gehe darum, den Wald als Stimulanz für unsere Sinne zu begreifen. "Im Wald wird man offener und toleranter." Wenn er Waldkurse für Kinder abhalte, sei die Stille für Jungs anfangs geradezu beängstigend. Wilhelm lehrt sie, mal eine Viertelstunde bewegungslos dazusitzen. Es geht um Geduld. Beobachtungsgabe. Selbstfindung. Um das Seelenbad im Unterholz.

Und ein bisschen geht es auch um das zeitweilige Abschütteln der irrsinnigen Konsum- und Technikfixierung im vollgestopften Alltag. Wenn man sich den Boom von Magazinen wie "Landlust" und Büchern wie denen des Eifel-Försters Peter Wohlleben ("Das geheime Leben der Bäume", "Das geheime Leben der Tiere") vor Augen führt, ist klar: "Waldness" à la Wilhelm ist en vogue.

Wenn er, der Waldanwalt vom Dienst, davon spricht, dass die Kohlmeisen im Gänshorner Forst bei Blieskastel "im März ihre neuen Immobilien angucken", denkt man nicht: Der Wilhelm spinnt. Sondern stellt sich ein Kohlmeisenpaar vor, das einen Baum inspiziert. Schon im nächsten Satz kann er davon reden, dass ein Homburger Immobilienhändler hier ein paar Hektar Wald gekauft hat, weil er darauf spekuliert, dass die nahegelegene psychosoziale Privatklinik expandieren wird. Der Wald als Geschäft. Da kommt Wilhelm dann auf "die Globalisierung der Holzmärkte" zu sprechen, die 90 Prozent der heimischen Eschenbestände zu zerstören drohen. Weil deutsche Hölzer teils in China fabrikfertig zugeschnitten und dann aus Fernost unbegast zurückgeschickt werden. So wurde ein in Asien harmloser Pilz mit importiert, der keinem heimischen Baum zusetzt - ,,außer der Esche, die zerstört dieser Pilz".

So ist dieser Lothar Wilhelm: Er kann über Biodiversität dozieren und im nächsten Moment von "inspiriertem Holz" abseits des Weges reden. Von Ästen, "die dich auf Ideen bringen, die du beim Bauen von Stühlen nicht gehabt hast". Gleichzeitig aber - und das gibt seiner wildnispädagogischen Arbeit Hand und Fuß und einen klaren Horizont - hat er sich den wissenschaftlichen Blick bewahrt. "Wer neugierig ist, hat mehr vom Leben" (ein Satz aus der "Sendung mit der Maus"), ist Wilhelms Credo. Wobei seine Neugierde immer von Achtsamkeit geleitet ist.

In seiner Saarbrücker Werkstatt bastelt er seit Monaten an Klanginstrumenten herum, weil er im Sommer in Luxemburg einen Baukurs dazu anbietet. Also hat er sich ein Orchesterstimmgerät gekauft, beschäftigt sich mit Tonleitern, tüftelt herum mit Klangplättchen, ihren Auflagepunkten und dem optimalen Resonanzkörper. Undenkbar, dass Wilhelm dabei je die Nerven verlieren könnte. Wenn er dann endlich den cis-Dur-Ton gefunden hat, den er solange suchte, dann lacht er, als gäbe es weit und breit kein größeres Glück.

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