„Für seine Angst muss man sich nicht schämen“

BURBACH · Oberkommissar Andreas Stoffel arbeitet seit 27 Jahren in der Polizeiinspektion Burbach. An Leichen und Angriffe hat er sich gewöhnt.

 Andreas Stoffel posiert mit seiner ungeliebten Polizistenmütze vor der Karte seines Einsatzgebiets. Schick sei die Mütze zwar, aber sehr unpraktisch. Fürs Foto im Besprechungszimmer der Dienststelle Burbach hat sie Stoffel extra aus seinem Dienstspind geholt. Foto: Rich Serra

Andreas Stoffel posiert mit seiner ungeliebten Polizistenmütze vor der Karte seines Einsatzgebiets. Schick sei die Mütze zwar, aber sehr unpraktisch. Fürs Foto im Besprechungszimmer der Dienststelle Burbach hat sie Stoffel extra aus seinem Dienstspind geholt. Foto: Rich Serra

Foto: Rich Serra

Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, kommen ihm die Tränen. Er weint, fünf lange Minuten lang. Ein Zeichen von Befreiung. Anspannung, die endlich weichen darf. Man sieht Andreas Stoffel auch über 15 Jahre später an, wie prägend dieser Tag für ihn war. Am Morgen ist der Polizeioberkommissar munter zur Arbeit gegangen, zurück kommt er mit einem Gipsverband. Einem betrunkenen Randalierer haben Stoffels Versuche, ihn zu beruhigen, nicht gepasst. Er versetzt dem Polizeibeamten einen kräftigen Stoß. Der gebürtige Kaiserslauterer, der in Wadgassen lebt, streckt seinen linken Arm nach hinten, um sich abzufedern. Er fällt direkt auf sein linkes Handgelenk. "Das ist schon irritierend", sagt Stoffel.

Irritierend ist es auch, wenn Stoffel Sätze wie "Ich fahre sehr gerne zu Toten" sagt, davon berichtet, wie bei ihm mehrmals der Verdacht bestand, sich während seines Dienstes mit Hepatitis B infiziert zu haben und er sich seine linke Kniescheibe im Einsatz verdreht hat. Einem Kollegen sei bei einem Einsatz sogar einmal eine Fleischergabel ins Bein gejagt worden. Seit 27 Jahren arbeitet Stoffel bei der Polizeiinspektion Saarbrücken-Burbach. Den Stadtteil, der als "sozialer Brennpunkt" bekannt ist, kennt er wie seine Westentasche. Mehr im Schlechten als im Guten. Und trotzdem bereut es der 53-Jährige nicht, nie in eine ruhigere Inspektion gewechselt zu sein. Sein Fazit: "Ich würde es wieder so tun."

Stoffels Wunsch, Polizist zu werden, kam schon im Kindesalter auf. "Das ist ganz schön klischeemäßig, ich weiß", sagt er und lacht. Im Zentrum stand schon damals der Wunsch, Bösewichten das Handwerk zu legen. Später kam der zukunftssichere Charakter des Berufs dazu. "Mit 15 Jahren habe ich aber erstmal eine Lehre zum Gas- und Wasserinstallateur gemacht", sagt Stoffel. Sein Vater war Steiger in der Grube Warndt, "da war mir der Handwerksberuf schon in die Wiege gelegt", kommentiert Stoffel. Da er kein Abitur gemacht hatte, war eine abgeschlossene Berufsausbildung ohnehin Voraussetzung, um die Polizistenausbildung zu beginnen. Mit 18 Jahren ist der Sohn eines Bergarbeiters zwar ausgebildeter Gas- und Wasserinstallateur, doch er findet keine Stelle. "Eine Fügung des Schicksals", sagt Stoffel rückblickend. Er verfolgt seinen Kindheitstraum und bewirbt sich bei der Polizei. Und wird genommen. Die mittlere Reife holt er parallel zur Kommissarsausbildung nach.

Mit 27 Jahren setzt er das erste Mal den Fuß in die Dienststelle Burbach-Malstatt, die sich damals noch in der Dresdener Straße in Malstatt befindet. Nach den ersten Wochen war er geschockt: "Mir ist da erstmal bewusst geworden, wie viele Gewaltdelikte vorkommen", erinnert sich Stoffel. Massenschlägereien und tätliche Übergriffe auf Kollegen erlebt er viele, selbst bleibt er die ersten Jahre aber verschont. Aus kritischen Situationen half ihm seine Überzeugungsfähigkeit. "Ich glaube auch heute noch, dass die beste Waffe des Polizeibeamten sein Mundwerk ist", sagt er.

1996 muss Stoffel erfahren, dass ihn seine Arbeit auch in Situationen führt, in den ein gutes Mundwerk nichts ausrichten kann. Als er einen aggressiven Straftäter überwältigen will, krallt sich dieser mit seinen Fingernägeln in Stoffels Hals. "Mein Hals sah aus wie nach einem Tigerangriff", erinnert sich der Wadgasser. Schmerzen spürte er keine. Der Adrenalinschub war zu groß. "Als ich im Dienstwagen saß, strich ich mir über den Hals. Erst da fiel mir auf, dass ich blute", erinnert sich Stoffel. Doch der richtige Schrecken sollte erst noch kommen: Der Täter ist Hepatitis B-positiv. Das Risiko, dass er Stoffel die Infektionskrankheit übertragen habe, groß. Obwohl er sofort ein Antiserum gespritzt bekam, musste er sechs Wochen warten, um Gewissheit zu haben, die Infektionskrankheit nicht in sich zu tragen.

Was ihn angesichts der vielen negativen Erfahrungen motiviere, seinen Beruf weiterhin mit Freude auszuüben, beantwortet Stoffel wie aus der Pistole: "Mein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn."

Doch wie geht er mit seinem risikoreichen Beruf um? "Ich bin schon etwas härter gesotten und habe eine dicke Haut", erklärt Stoffel. Mit der Zeit stumpfe man auch ab, "ich glaube, das ist eine Art Schutzmechanismus", sagt Stoffel. Der Satz "Ich fahre sehr gerne zu Toten" verdeutlicht dieses Phänomen. Er fällt, als Stoffel darüber redet, dass er mindestens einmal im Monat auf eine verweste Leiche in einer Wohnung trifft. Viele Kollegen könnten den penetranten Leichengeruch auch nach Jahren nicht ertragen und reiben sich dagegen Pfefferminzöl unter die Nase. Stoffel habe eher Probleme mit frischem Blut, dass er bei Mordfällen zu Gesicht bekommt.

Den Berufsalltag im Feierabend hinter sich zu lassen, sei nie ein richtiges Problem gewesen, sagt Stoffel. Wichtig sei dafür der richtige Freizeitausgleich: Beim Fahrradfahren, Schwimmen oder Wandern kann der Oberkommissar ausspannen. Wenn Stoffel von den Fahrradparcours erzählt, die er im Namen des ADAC für Kinder ausrichtet, beginnen seine strahlend blauen Augen zu leuchten. "Es tut gut, auch mal mit normalen Menschen zu tun zu haben", witzelt er. Energiequelle Nummer eins ist für den Mann, der sich selbst als Idealisten bezeichnet, aber seine Familie. Paradox, denn Stoffels Beruf ist für diese alles andere als ein Traum. "Mein Sohn hat sich bewusst dagegen entschieden, Polizist zu werden", sagt Stoffel. Als er noch ein kleiner Junge war, erzählte ihm Stoffel ausgewählte Episoden aus dem Berufsalltag. "Natürlich nur lustiges und spannendes", fügt Stoffel hinzu. Spätestens als er den Papa mit blutverschmierter Kleidung von der Arbeit kommen sehen habe, sei ihm das Risiko, dem sein Vater ausgesetzt ist, jedoch bewusst geworden. Der 25-Jährige studiert mittlerweile Ernährungswissenschaften in Frankfurt.

Auch Stoffels Frau hadert mit dem Beruf ihres Mannes: "Sie hat mich schon oft gefragt, ob ich nicht in den Innendienst wechseln möchte", bestätigt Stoffel. Eine viermonatige Testphase im Geschäftszimmer der Dienststelle zeigte: Das ist dem "unruhigen Herd" einfach zu ruhig. Obwohl sich seine Frau oft Sorgen um ihn mache, könne er mit ihr über alles reden. "Das ist eine große Hilfe", weiß Stoffel.

Prallen die gefährlichen Situationen, in die ihn sein Beruf oft begibt, inzwischen also einfach an ihm ab? "Meine Frau sagt mir oft, dass ich unruhig schlafe", sagt Stoffel. Albträume habe er aber keine. "Jeder hat Angst, nur geht jeder anders damit um", sagt Stoffel. Durch den Einzug von Frauen habe sich die einstige Männerdomäne Polizei positiv gewandelt. Wer früher Gefühle zeigte, war sofort ein "Weichei". Viele Kollegen würden ihre Ängste aber weiterhin nicht offen ansprechen. Aus Angst, als schwach dazustehen. "Ich habe schon immer gesagt, für seine Angst braucht man sich nicht zu schämen", setzt Stoffel dieser Sicht entgegen.

Bis zum Ruhestand bleiben ihm noch rund acht Jahre. Ob er seiner Frau zuliebe davor noch in den Innendienst wechselt? Sein Wechsel in die "Operative Einheit", eine neue Polizei-Sondereinheit, im kommenden Monat spricht nicht dafür. "Mal schauen", hält es Stoffel offen. Sein Grinsen verrät: So richtig vorstellen kann er sich das nicht.

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