Der IS wächst an der Schwäche seiner Gegner

Bagdad · Die Audiobotschaft, die das ganze Ausmaß des Terrors verdeutlichte, verbreitete sich genau vor einem Jahr in Windeseile über das Internet. Der Sprecher der sunnitischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) brauchte am 29. Juni 2015 ein wenig, um zum Punkt zu kommen.

"Die Sonne des Dschihad ist aufgegangen", triumphierte Mohammed al-Adnani im singenden Tonfall. "Die Zeichen des Sieges sind erschienen." Dann folgte der Satz, der nicht nur Muslime erschreckte: Die Führer des IS hätten beschlossen, ein "Islamisches Kalifat" zu errichten.

Spätestens mit dieser Audiobotschaft wurde deutlich, dass es sich beim IS nicht nur um eine Horde wilder Kämpfer handelt, die große Landstriche im Irak und in Syrien überrannt haben. Mit der Ausrufung des Kalifats will der IS an die Staatsform anknüpfen, mit der viele Muslime bis heute goldene Zeiten des Islams verbinden. Zugleich verkündet er damit, dass er einen Staat aufbauen will - ein Zeichen der Stärke, das auf viele Sympathisanten der Dschihadisten anziehend wirkt, weil es ihnen Macht und ein visionäres Ziel vorgaukelt. Im eigenen Herrschaftsgebiet kontrolliert der IS nicht nur Verwaltung und Bildungswesen, sondern treibt auch Steuern ein. Eigene Gerichte setzen die radikalste Lesart der Scharia, des islamischen Rechts, durch. Geleitet wird das Gebilde von "Kalif Ibrahim", wie sich IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi seit Auftauchen der Audiobotschaft nennt.

Doch das Kalifat dient dem IS auch dazu, eine Fassade der Stärke aufzubauen. Zur Propaganda der Extremisten gehört es, Gegnern Angst und Schrecken einzujagen, indem man sie glauben lässt, der IS wäre unbesiegbar. Mit radikalster Gewalt geht die sunnitische Miliz gegen Gegner und Andersgläubige vor. Auch die militärischen Erfolge der Dschihadisten tragen zu diesem Bild bei. Erst vor wenigen Wochen konnten sie im Westen des Iraks die Provinzhauptstadt Ramadi einnehmen. Unbezwingbar aber sind die Dschihadisten nicht. Kurdische Volksschutzeinheiten vertrieben den IS Ende Januar nach monatelangen heftigen Kämpfen aus Kobane. Einigermaßen gut organisierte Einheiten können dem IS die Stirn bieten. Zudem drohen dem IS wirtschaftliche Probleme. Zwar gilt die Miliz als reichste Terrorgruppe der Welt, weil ihr der Besitz von Öl- und Gasfeldern im Irak und in Syrien Millioneneinnahmen beschert. Doch einen Staat zu unterhalten kostet viel Geld. Der IS-Reichtum basiert zudem auf einer Beutewirtschaft: Eroberte Gebiete werden geplündert. Große Geländegewinne konnte der IS zuletzt jedoch nicht erzielen. Und viele landwirtschaftliche Flächen liegen brach, die Versorung könnte ins Stocken geraten. Dennoch erwarten Experten wie Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) nicht, dass sich die Bevölkerung gegen den IS auflehnt. Im Irak und in Syrien lehnen die meisten Sunniten die von Schiiten dominierte Regierung in Bagdad ab, weil sie sich diskriminiert fühlen. Das Regime in Damaskus hat bei seinen Gegnern längst jede Legitimität verloren. Außerdem gibt es in beiden Ländern außer den Kurden derzeit keine militärische Kraft, die den IS besiegen kann. Der irakischen Armee fehlt trotz US-Hilfe die Schlagkraft, die syrische ist ausgelaugt. Der Erfolg des IS ist weniger ein Ergebnis seiner eigenen Stärke - als der Schwäche seiner Gegner.

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