Brisante Wahrheiten „Wir hatten nicht die leiseste Ahnung“

Washington · Die jetzt freigegebenen Afghanistan-Papiere zeigen, wie die US-Regierungen die Fortschritte am Hindukusch beschönigten.

Sechs Jahre lang, bis 2013, war Douglas Lute als Sonderbeauftragter im Weißen Haus für den Krieg in Afghanistan zuständig. Als er regierungsintern nach Lehren gefragt wurde, wurde er deutlich. „Uns fehlte ein grundsätzliches Verständnis für Afghanistan. Wir wussten nicht, was wir taten“, zog der Dreisternegeneral ernüchtert Bilanz. „Was versuchen wir dort zu erreichen? Wir hatten nicht die leiseste Ahnung, worauf wir uns eingelassen hatten.“

Lute ist einer von über 400 Experten, die seit 2014 hinter verschlossenen Türen zu Protokoll gaben, was sie vom Einsatz am Hindukusch hielten – Soldaten, Diplomaten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. „Lessons Learned“ hieß das Projekt: In der Annahme, die Truppen würden noch unter dem Präsidenten Barack Obama vollständig abgezogen, wollte das Büro des Generalinspekteurs für den afghanischen Wiederaufbau Bilanz ziehen. Fehler auflisten, Lektionen formulieren. Nach dreijährigem Rechtsstreit hat die  Washington Post nun die Freigabe der mehr als zweitausend Seiten erzwungen. Manche vergleichen sie mit den Pentagon Papers, der schonungslos offenen Analyse des Vietnamkriegs, die 1971 von dem Whistleblower Daniel Ellsberg der Presse zugespielt wurde.

Die Afghanistan-Papiere zeichnen das Bild einer Intervention, die schon bald jeden realistischen Ansatz vermissen ließ. Nach den Anschlägen am 11. September 2001 war es noch darum gegangen, das Terrornetzwerk Al Qaida seiner logistischen Basis zu berauben und die Taliban, die Gastgeber Osama Bin Ladens, von der Macht zu vertreiben. In dem Maße aber, wie sich das Kabinett George W. Bushs auf den angepeilten Feldzug im Irak konzentrierte, wurde Afghanistan zum Nebenschauplatz. Welches Ziel man verfolgte, verschwamm schon deshalb im Nebel, weil es zu viele Ziele gab, an denen man sich orientierte. Die einen, so die Washington Post, wollten das Land in eine Demokratie nach westlichem Vorbild verwandeln, andere die Frauenrechte fördern, wieder andere die regionale Machtbalance zwischen Staaten wie Pakistan, Indien, Iran und Russland neu justieren. Irgendwann habe „für jeden ein Geschenk unterm Tannenbaum gelegen“, sagte ein Regierungsbeamter. Es habe so viele Prioritäten gegeben, dass von einer Strategie keine Rede mehr sein konnte.

Ein Diplomat sprach von dem Versuch, eine starke Zentralregierung in Kabul zu etablieren. „Das war idiotisch, denn Afghanistan kennt die Tradition einer starken Zentralregierung nicht“. Man würde hundert Jahre brauchen, um eine solche zu schaffen – „so viel Zeit haben wir nicht“. Wer Freund und wer Feind war, ließ sich angesichts komplizierter Strukturen nie eindeutig bestimmen, berichtete der Berater eines US-Spezialkommandos. Die Soldaten „dachten, ich käme mit einer Landkarte, die zeigte, wo die ‚Good Guys‘ und wo die ‚Bad Guys‘ sind. Es bedurfte mehrerer Gespräche, bis sie begriffen, dass ich solche Informationen nicht hatte.“

Drei Präsidenten in Folge, Bush, Obama und Trump, hat die triste Realität nicht daran gehindert, in der Öffentlichkeit von Fortschritten zu reden, in Donald Trumps Diktion sogar von enormen Fortschritten. Um die rosarote Einschätzung zu untermauern, etwa nach einer Truppenaufstockung im Jahr 2009, habe das Weiße Haus verlangt, dazu passende Daten zu liefern, sagte ein Beamter des Nationalen Sicherheitsrats. „Die Daten wurden immer manipuliert, für die gesamte Dauer des Krieges.“

Schließlich die Hilfsgelder, den Schilderungen nach ein Kapitel opulenter Verschwendung. Während der Militäreinsatz die USA bis dato eine Billion Dollar kostete, gab das Land 133 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau aus. Davon sei allerdings „nur ein winziger Prozentsatz“ bei den Menschen angekommen, bilanzierte Robert Finn, nach dem Sieg über die Taliban der erste US-Botschafter in Kabul. Das Gros des Geldes sei verwendet worden, um lokale Milizen und die Polizei zu trainieren.

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