Oettinger fordert mehr Geld

Brüssel · Bei seiner Anhörung vor dem EU-Parlament hat der designierte Kommissar Oettinger einen selbstbewussten Auftritt geliefert. Er schätzt die digitale Infrastruktur höher ein als den Ausbau von Straßen und Schienen.

Tagelang hatte sich Günther Oettinger (60) mit hämischem Unterton anhören müssen, dass er weder ein Tablet benutze, noch als Internet-Nerd bekannt sei. Doch als der bisherige EU-Kommissar für Energie gestern Abend auf dem heißen Stuhl vor den Europa-Abgeordneten Platz genommen hatte, wurde klar, dass er mehr sein will als ein Internet-Kommissar. "Noch vor Straßen- und Schienen-Ausbau ist die digitale Infrastruktur das Rückgrat unserer künftigen Wirtschaft", sagte er. Die Zeit der "nationalen Eigenheiten auf einem grenzüberschreitenden digitalen Binnenmarkt" sei vorbei.

Er sei unzufrieden mit den bisher zur Verfügung gestellten Mitteln, sagte Oettinger und forderte, auch die Infrastruktur-Fonds der EU für den Ausbau der Hochgeschwindigkeitsnetze nutzen zu können. Zudem hätten die Abgeordneten "meine volle Unterstützung" bei der Abschaffung der Roaminggebühren, die nach dem Willen der Volksvertretung im Dezember 2015 endgültig fallen sollen.

Drei Stunden lang müssen die 27 Kandidaten für einen Job in der nächsten Kommission von Jean-Claude Juncker seit gestern den Europa-Abgeordneten Rede und Antwort stehen. Bis zu 50 Themen werden mündlich abgefragt, darunter auch überraschende. Der fraktionslose Abgeordnete Martin Sonneborn versuchte Oettinger aus der Reserve zu locken, als er ihn auf das Recht auf Vergessen im Internet ansprach, dem CDU-Politiker dabei eigene "Sündenfälle" aus seinem früheren Leben vorhielt. Oettinger parierte kühl mit einem Bekenntnis, alle Bürger müssten die Möglichkeit haben, unliebsame Daten löschen zu lassen. "Ich werde das nicht können, denn es stand alles in der Zeitung", gab er zu.

Dass diese mündliche Prüfung tief gehen kann, bekam schon am Nachmittag die Schwedin Cecilia Malmström zu spüren. Bisher für die Innenpolitik verantwortlich, soll sie ab 1. November das Handelsressort übernehmen und wird damit auch für das umstrittene TTIP-Freihandelsabkommen mit den USA zuständig. Noch am Wochenende gab es Unstimmigkeiten, weil Malmström in ihren schriftlichen Antworten den umstrittenen ISDS-Klauseln zu Schiedsgerichten, mit denen sich Unternehmen gegen unliebsame staatliche Gesetzte wehren können, eine Absage erteilt hatte. Später musste sie die Aussage relativieren. Angeblich war ein falscher Textentwurf versendet worden. Gestern sagte sie: "Es gibt Probleme mit ISDS". Sie schließe "nicht aus, dass diese Gerichte am Ende herausgenommen werden".

Beide Kandidaten gelten als sichere Mitglieder der nächsten Kommission, die am 22. Oktober gewählt werden und am 1. November ihr Amt antreten soll. Vorausgesetzt, es gibt nicht noch einige Überraschungen. Denn vier Bewerber werden als "kritisch" eingestuft und könnten durchaus am Votum der Parlamentarier scheitern. Dann müssten die entsendenden Mitgliedstaaten rasch einen neuen Vorschlag präsentieren.

Meinung:

Aufholjagd ist überfällig

Von SZ-KorrespondentDetlef Drewes

Wer geglaubt hatte, Günther Oettinger werde sich in Brüssel zum reinen Internet-Kommissar degradieren lassen, sieht sich getäuscht. Der CDU-Politiker lieferte ein durchaus brillantes Feuerwerk als Industriepolitiker ab. Seine Bekenntnisse zur Netzneutralität, zum Datenschutz und zum Recht auf Vergessen waren überzeugend. Seine Diagnose, dass diese EU noch immer in der digitalen Steinzeit lebt, stimmt. Die digitale Aufholjagd, die er ausgerufen hat, ist überfällig. Doch der Schwung in diese Zukunft fällt gebremst aus. Auch Oettinger weiß noch nicht, wo er das Geld dafür herbekommen soll. Es wird darauf ankommen, wie viel Rückendeckung er in der neuen Kommission hat.

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