Vom deutschen Gedächtnisschwund

Saarbrücken · Aufsatzsammlung – das mag dröge und akademisch klingen. Für Götz Alys neues Buch „Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus“ gilt aber das Gegenteil.

Diese gesammelten elf Aufsätze und Reden, viele bereits auszugsweise in Zeitungen erschienen, liefern zuhauf Belege für das, was der streitbare Berliner Politikwissenschaftler (und Historiker) Götz Aly den "Massencharakter" des Nationalsozialismus nennt. In seiner Einleitung umreißt Aly am Beispiel einer Figur aus Uwe Johnsons Roman-Tetralogie "Jahrestage" seine Grundthese, dass der NS-Staat ohne die Unterstützung weiter Teile des Volkes in seiner barbarischen Form nicht möglich gewesen wäre. Johnsons "Fretwurst" gilt ihm als Musterbeispiel all jener Mitläufer, die den braven Biedermann gaben, aber rücksichtslos danach trachteten, ihren sozialen Status zu verbessern. "In den Gedenkstätten, Geschichts- und Schulbüchern kommt diese Millionenfigur nicht vor. Sie gilt als banal oder peinlich. Folglich genießt "Fretwurst" das Privileg des Inkognito und lebt munter weiter." Weil Aly zufolge die deutsche "Erinnerungspolitik" bis heute darauf abzielt, eine Kollektivschuld in Abrede zu stellen.

Dementgegen impliziert der Buchtitel "Volk ohne Mitte", dass die nach 1870 rasant in die Moderne gestoßenen Deutschen gewissermaßen ungeerdet in die späteren Katastrophen schlitterten (Weltkriege, Weltwirtschaftskrise, NS-Diktatur), sodass die Nazis ihr fehlendes Selbst- und Nationalbewusstsein instrumentalisieren konnten. Je tiefer die Deutschen sich qua Wegschauen oder Teilhabe in Schuld verstrickten, umso mehr wurden sie Teil des NS-Systems. In seiner Darmstädter Rede über das 9. Gebot (Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus) bringt Aly es auf den Punkt: "Das vage Wissen und das starke Nichtwissenwollen machten die Volksgenossen moralisch reglos." Dass Hausrat, den man auf Volksauktionen billig erstand, Deportierten gehörte, begünstigte dieses Wegsehen.

Immer wieder polemisiert Aly gegen den "zwanghaften Eifer", mit dem man bis heute aus Gründen der Reinwaschung Schwarzweißmalerei betreibe (hier ein wahrer Opferkult, der zu bequemer Identifikation verleitet; dort eine monströse Stilisierung der Täter zu gleichsam "außerirdischen Exekutoren") und hat dabei meist die historischen Quellen auf seiner Seite. In seiner Dankesrede beim Börne-Preis 2012 erinnert er daran, dass sich in der deutschen Geschichte gute und gefährliche Traditionen nicht trennen ließen. In "Die heilsame Wirkung des Kalten Krieges" deutet er die deutsche Teilung als Chance einer Nation, "ihr verwildertes Freund-Feind-Denken an sich selbst, an ihren inneren Mauern und Stacheldrahtverhauen abzuarbeiten".

Die Wirksamkeit des NS-Staats basierte auf der "hohen Integrations- und Mobilisierungsfähigkeit der unterschiedlichsten sozialen Gruppen". Dazu gehörten auch Historiker und Mediziner. "Arbeit an den Vorstufen der Vernichtung" illustriert am Beispiel von Theodor Schieder und Werner Conze die NS-Nähe führender Nachkriegshistoriker, während "Gedächtnisschwund deutscher Hirnforscher" ein modernes Lehrstück in Sachen Vergangenheitsaktualität ist. Dieser letzte Text offenbart (ungeachtet mitunter störender Selbststilisierungen), wie sehr Alys Quellenstudien bis heute behindert werden. Und der ganze Band, dass diese im besten Sinne unbequeme Art nationaler Selbstvergewisserung weiterhin Not tut.

Götz Aly : Volk ohne Mitte.

Die Deutschen zwischen Freiheitsangst und Kollektivismus.

S. Fischer, 266 S., 21,99 Euro.

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