„Raffiniert abgründig“

Klagenfurt · Der diesjährige Ingeborg-Bachmann-Preis geht an Nora Gomringer. Die Jury im österreichischen Klagenfurt hat die in Neunkirchen geborene Autorin gestern ausgezeichnet.

Freudentränen flossen bei Nora Gomringer, die nach einigen Stichwahlen gestern den mit 25 000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat. Die sehr performative "Recherche", mit der die gebürtige Neunkircherin in Klagenfurt erfolgreich war, führt die Schriftstellerin Nora Bossong in ein Haus, aus dem sich am 23. Februar ein 13-jähriger Junge vom Balkon aus der fünften Etage gestürzt hat. Er hatte seine homoerotische Neigung erkannt, war von Gleichaltrigen gehänselt und ausgegrenzt worden. Die Mitbewohner "mauern" gegenüber der Recherche - eine Frau aus dem Haus äußert sogar den unglaublichen Satz "es war wohl besser so". Jury-Mitglied Hubert Winkels befand: "Das ganze Haus wird zu Mittätern gemacht". Das alles las Nora Gomringer "raffiniert abgründig" (Hildegard Keller). Mit gefangen nehmender Vortragskunst und sprachlicher Vielfalt bestach die Autorin von Anfang an - bis auf den neuen Juror Klaus Kastberger, der über den Text befand: "Ohne den Wettbewerb gäbe es ihn nicht. Er hat außerhalb keine Chance."

Mit der 1989 geborenen Grazerin Valerie Fritsch hat eine der jüngsten Teilnehmerinnen den Scheck über 10 000 Euro für den Kelag Preis entgegennehmen können. Sie war von Klaus Kastberger eingeladen worden, der an der Uni ihrer Heimatstadt Literatur unterrichtet. Die einfühlsame Geschichte "Das Bein" ist ein klassischer literarischer Text über Versehrtheit. Eine Fichte stürzt um und zerquetscht ein Bein des Familienvaters. Der sträubt sich gegen eine dieser hochtechnologischen Prothesen und möchte lieber ein altmodisches Holzbein tragen, am besten aus dem Stamm der umgestürzten Fichte. Diese feine, "großartig gearbeitete" (Sandra Kegel) Geschichte kann zu keinem guten Ende führen, begeisterte aber Jury und Publikum. Für dessen Reife spricht die über das Internet erfolgte Wahl der Autorin für den Publikumspreis über 7000 Euro. Dieser Doppelgewinn ist ein Gewinn für die Literatur, die sich bei Jury und Publikum gegen das Unterhaltsame und nur Performative durchgesetzt hat.

Der 3sat-Preis über 7500 Euro ging - auch das ist eine Verbeugung vor ernsthafter Literatur - an die 1979 in Bukarest geborene Dana Grigorcea aus Zürich. Sie las auf Einladung von Hildegard Keller den Romanauszug "Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit", einen "Text mit Schmiss" (Hubert Winkels), der das Potenzial zu einem großen Gesellschaftsroman habe, von dem "ich mir noch 200 Seiten mehr wünsche" (Klaus Kastberger). Es geht um ein Gesellschaftsbild Rumäniens in der Zeit vor und nach Ceausescu und - wie nebenbei - um einen spektakulären Besuch Michael Jacksons in Bukarest, der das Klischee der amerikanischen Geografie-Ignoranz mit seiner verbürgten Begrüßung "Hello Budapest, I love you" aufs Komischste bedient.

Zahlenmäßig hatten die Frauen eine Zweidrittelmehrheit im Feld der Teilnehmer, alle Preise gingen an Frauen. Einige sehr gute Texte konnten nicht bedacht werden. In weniger guten Jahrgängen hätten die in Zagreb geborene Anna Baar für ihren Text über die Frauen auf einer kroatischen Insel oder auch für die Hamburgerin Monique Schwitter für ihre Szenen über "die letzte Ordnung" bei der Besetzung von Waldbestattungsplätzen in Buxtehude Preise gewonnen.

Dieser Bachmannpreis erlebte bei hochsommerlichen Temperaturen eine tolle Ausgabe und behauptet seinen wichtigen Platz in der deutschsprachigen Literatur. "Ich bin Germanistin. Wir haben das geguckt wie Germanisten-Porno." Nora Gomringer drückte nach dem Gewinn des Bachmann-Preises ihre langjährige Liebe zu den "Tagen der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt recht drastisch aus. Der Spruch von einer Sache, die jemandem in die Wiege gelegt scheint, trifft auf die gebürtige Neunkircherin zu: Die 35-Jährige ist die Tochter einer Germanistin und des Schweizer Dichters Eugen Gomringer . Seit rund 15 Jahren ist sie als Lyrikerin bekannt und hat seitdem mehr als ein Dutzend Preise eingeheimst. So wurden ihr der Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2011) und der Joachim-Ringelnatz-Preis (2012) zugesprochen.

Die Frühaufsteherin arbeitet als Autorin vor und nach ihrem Tagwerk als Direktorin des Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg. Prägend war für sie das Aufwachsen an der Seite von sieben Brüdern, die auch gern Horrorfilme geschaut haben: "Ich habe eine persönliche Vorliebe für Grusel." Die Liebe zur Sprach-Akrobatik hat Gomringer nicht nur mit ihren bisher fünf Lyrik-Bänden belegt: Sie gehört auch zu den Mitbegründern der Poetry-Slam-Szene.

Info: www.nor-gomringer.de

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