Wo man Wörter auf 16 Arten beugt

Leena Lehtolainen war gerade erst zwölf Jahre alt, als ihr erster Roman erschien. Heute zählt die 50-Jährige zu den international erfolgreichsten Autorinnen Finnlands: Ihre knapp 20 Romane werden in 29 Sprachen übersetzt und erreichen Millionenauflagen. Lehtolainen studierte Literaturwissenschaften in Helsinki und erhielt 1997 den finnischen Krimipreis. Bei uns wurde sie durch ihre Serie um Kommissarin Maria Kallio bekannt. Soeben ist deren zwölfter Fall „Wer ohne Schande ist“ erschienen. Sie schreibt auch Kurzgeschichten. SZ-Mitarbeiter Günter Keil hat mit der Autorin gesprochen, die in Degerby westlich von Helsinki lebt.

 Skurrile Typen in schwarzweißer Landschaft: So sieht Finnland in Aki Kaurismäkis Film „Juha“ (1989) aus. Foto: Pandora Film Verleih

Skurrile Typen in schwarzweißer Landschaft: So sieht Finnland in Aki Kaurismäkis Film „Juha“ (1989) aus. Foto: Pandora Film Verleih

Foto: Pandora Film Verleih

Ihre Eltern waren Finnisch-Lehrer. Mussten Sie als Kind daheim immer ganz korrekt sprechen?

Lehtolainen: Ja. Grammatikalische Fehler haben meine Eltern sofort korrigiert. Das klingt streng, aber andererseits erlaubten sie mir Jugendslang und den regionalen Dialekt. In unserer Familie hatten wir einen sehr kreativen Umgang mit Sprache. Um einzelne Formulierungen gab es allerdings immer wieder Diskussionen.

Bitte nennen Sie ein Beispiel.

Lehtolainen: Meine Mutter legte Wert darauf, mit "Äiti" angesprochen zu werden, das ist das exakte finnische Wort für "Mutter". Das umgangssprachliche "Mutsi" mochte sie hingegen gar nicht, genauso wenig wie "Äet" im savo-karelischen Dialekt.

Hat Sie dieses Sprachverständnis direkt zur Literaturwissenschaft und zur Schriftstellerei geführt?

Lehtolainen: Ich glaube schon. Das sieht man auch an meiner Lieblingslektüre als Kind: Dauernd blätterte ich im etymologischen Wörterbuch, das im Wohnzimmer herumlag. Am hilfreichsten war natürlich, dass mir meine Eltern viel vorgelesen haben, bevor ich selbst lesen konnte. Ich bin ihnen sehr dankbar.

Was ist das Besondere an der finnischen Sprache?

Lehtolainen: Sie ist nicht die leichteste Sprache der Welt, denn wir beugen unsere Wörter auf 16 Arten und haben viele Synonyme. Für eine Autorin sind das aber gute Werkzeuge. Bei Krimis ist es außerdem praktisch, dass wir nur ein Personalpronomen haben, "hän". Das kann sowohl eine weibliche als auch eine männliche Figur beschreiben und macht viele Szenen noch spannender.

Zurzeit erscheinen unzählige Bücher finnischer Autoren auf Deutsch. Man könnte fast meinen, jeder zweite Finne sei ein Autor.

Lehtolainen: Jeder zweite? Nein. Aber jeder vierte vielleicht. Im Ernst: Es ist tatsächlich so, dass viele Finnen Autoren werden wollen, auch junge Leute. Vielleicht liegt es daran, dass jede Menge gute Bücher für Kinder und Jugendliche erscheinen. Sogar unsere Lyrik ist durchs Internet und durch Poetry Slams zu neuem Leben erwacht. Die finnische Literatur ist vielfältiger und internationaler denn je.

Aber wird sie auch im eigenen Land gelesen?

Lehtolainen: Obwohl viele Leute englischsprachige Bücher im Original lesen, sind auch finnische Autoren sehr beliebt und erfolgreich. Auch Schwedische Kriminalromane sind populär, aber nicht unbedingt andere schwedische Literatur, obwohl Schwedisch ja unsere zweite Amtssprache ist. Sehr bedauerlich ist, dass wir nur sehr wenige Übersetzungen aus dem Deutschen, Französischen oder Spanischen auf dem Markt haben. Nur die ganz großen weltweiten Bestseller werden ins Finnische übersetzt.

Die schrägen Romane von Aarto Paasilinna oder Tuomas Kyrö und die Filme von Kaurismäki haben das Bild vom skurrilen Finnen geschaffen. Entspricht dieser Eindruck der Realität?

Lehtolainen: Was Kaurismäki zeigt, ist durchaus realistisch. Ich mag seine Filme sehr. Aber er zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des Lebens in Finnland. Wir sind kein homogenes Land mit vorwiegend skurrilen Typen.

Warum erzählen Sie Ihre international erfolgreiche Krimiserie aus der Perspektive Ihrer Hauptfigur, der Kommissarin Maria Kallio?

Lehtolainen: Das erschien mir ganz natürlich, als ich vor 20 Jahren begann. Außerdem wollte ich mit verschiedenen Spielarten des Krimigenres arbeiten - eine Erzählung in der ersten Person ist ja immer auch eine Leihgabe aus den klassischen "hard boiled"-Detektivgeschichten. Marias Erzählperspektive macht es für mich etwas schwieriger, genauso tief in die Persönlichkeiten der anderen Figuren einzutauchen.

Maria Kallio hat einen sehr eigenwilligen Musikgeschmack. Was hört sie am liebsten?

Lehtolainen: Bach, Paul Hindemith , Arvo Pärt , Queen, Kaija Saariaho und Astor Piazzola.

Eine ungewöhnliche Mischung. Was hören Sie selbst?

Lehtolainen: Das Gleiche wie Maria. Dazu Schubert, Sibelius, Luonteri Surf und Die Toten Hosen .

Verstehen Sie denn deren deutschen Texte?

Lehtolainen: Leider nur ein bisschen. Ich bereue es sehr, mich in der Schule nicht für Deutsch entschieden zu haben. Aber wielleicht lerne ich es ja irgendwann.

Leena Lehtolainen, Wer ohne Schande ist, Kindler, 352 Seiten, 19,95 Euro.

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