„Ihr haltet jetzt die Fresse!“

Da liegt sie, die geladene Knarre. Ober-Rüpel Musa ist sie während des Unterrichts (falls man den alltäglichen Wahnsinn in diesem Problemschul-Klassenzimmer so nennen möchte) aus der Tasche gefallen.

 Rabiate Pädagogik in „Verrücktes Blut“. Foto: Thomas Aurin

Rabiate Pädagogik in „Verrücktes Blut“. Foto: Thomas Aurin

Foto: Thomas Aurin

Nach einer Sekunde des Schreckens ergreift Lehrerin Sonia Kelich ihre Chance. Sie reißt die Waffe an sich - und hält damit den Schlüssel zur lange ersehnten Autorität in der Hand. Wer könnte in dem Moment nicht mit ihr mitfühlen? Mit der zierlichen Frau (Sesede Terziyan), die, von Bildungsidealismus angetrieben, einer Horde Halbstarker nahe zu bringen versucht, warum Schillers Idee der Selbstbestimmung für sie wichtig sein könnte.

Was die Pädagogin erdulden muss, wird uns am Sonntag gleich zu Beginn des Perspectives-Gastspiels von Nurkan Erpulats und Jens Hilljes Stück "Verrücktes Blut" in der Feuerwache vorgeführt: Da bauen sich die Jugendlichen mit den Namen Mariam, Latifa, Musa, Hakim, Ferit, Hasan und Bastian wie vor dem Publikum auf und bieten - in schöner Überspitzung - ein kleines Medley ihres Verhaltensrepertoires: Rotzen, Herumpöbeln, ins Handy schreien, im Schritt kratzen. Die Stimmung ändert sich erst, als Kelich beginnt, mit vorgehaltener Waffe ("Ihr haltet jetzt die Fresse!") den Unterricht fortzusetzen: mit Schillers "Die Räuber" und "Kabale und Liebe".

2010 trat das Stück vom Berliner Ballhaus Naunynstraße einen Siegeszug an, sackte etliche Preise ein. Mit Recht, denn das Spiel mit Klischees in dieser von einem achtköpfigen Ensemble temporeich gespielten Amok-Komödie ist phasenweise schreiend komisch und doch voller Tiefgang.

Kelich beginnt mit Logopädie: "Wer soll glauben, dass Ihr keine Affen seid, wenn Ihr nicht mal das schöne deutsche Wort Vernunft aussprechen könnt?". Doch die Schüler sollen nicht nur "Vernunft" und "Ich" statt "Isch" sagen können, sondern nicht weniger als sich selbst erkennen. Erst zitternd, die Reclamheftchen in die Hände gekrallt, dann immer selbstbewusster, beginnen sie, in die Rollen von Karl und Franz Moor, von Ferdinand und Luise zu finden, und entdecken Parallelen zu Ehrenmord und Machismus. Das Ganze ist immer wieder ironisch gebrochen, denn: So eindeutig sind die Rollen nicht verteilt. Lehrerin Kelich, die immer ungehemmter ihren inneren Sarrazin auspackt ("Hier rumficken wie eine Sau und am Ende eine Unberührte aus dem Dorf importieren, das ist für Euch Tradition!"), muss beim Thema Kopftuch feststellen, dass ihr Zwangsbeglückungsplan nicht aufgeht: das Mädchen mit Kopftuch will sich partout nicht unterdrückt fühlen. Kelich ist es auch, die in ihrer Aggression verharrt, als es darum geht, den brutalsten Schüler, der alle unterdrückt, niederzuschießen, während die Mitschüler Gnade fordern und mit einem Lehrsatz der französischen Revolution argumentieren.

Zur Zeit der Erstaufführung 2010 debattierte Deutschland über Sarrazin. Heute, gefühlte 500 Talkshows zur Integration später, scheint das Thema bisweilen tot geritten, wenn auch viele Probleme ungelöst sind. Politisch relevante Stücke altern naturgemäß schlecht, auch "Verrücktes Blut" wird nicht mehr lange laufen können. Noch aber wirkt es. Das zeigte auch der begeisterte Applaus in Saarbrücken.

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