Damals, als Amerika seine beste Zeit erlebte

Saarbrücken · Paul Austers neuer Roman „4321“ beschreibt auf 1200 Seiten ein Amerika, das es seit einigen Wochen so nicht mehr gibt.

 Schriftsteller Auster, gerade 70 geworden. Foto: picture alliance/APA/picturedesk.com

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Paul Auster erlebt das Merkwürdigste seines Lebens. Sein Roman, der gerade gleichzeitig in den USA und Deutschland erschienen ist, kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich in seinem Heimatland vieles durch die Regierung Trump drastisch ändert. "4321" ist schon jetzt ein Geschichtsbuch.

Über vier Jahre schrieb Auster an dem Großroman, zuvor hatte er einige Jahre damit verbracht, seine Lebenszeit im Amerika der Fünfziger bis Siebziger zu reflektieren. Jugendkultur und linksliberaler Mainstream kamen auf, der heimische Rassismus und die Kriege in Südostasien lösten Proteste aus. Kennedy war eine Lichtgestalt, der Mond wurde erobert, die Babyboomer veränderten die Gesellschaft. Sie waren wohlhabend, zufrieden mit ihrem Leben und entdeckten den Sex als Experiment. Es war die amerikanische Epoche, die beste Zeit des Landes.

Archie Ferguson ist dabei, 1948 geboren. Er wächst, zufällig wie Auster, im Komfort auf, aus dem er durch den jähen Tod des Vaters, der in seinem eigenen Kaufhaus verbrennt, vertrieben wird. Er lebt mit der Mutter, einer Fotografin, die es zäh zu Ruhm bringt. Später heiratet sie wieder, Archie besucht gute Schulen und studiert, gibt als Kind eine Schülerzeitschrift heraus, liest viel und erlebt ein politisches Erwachen, als Kennedy Präsident wird. Zu den intellektuellen Genüssen kommen die sexuellen, sehr viele Seiten des Romans beschreiben das. Ausgerechnet am Tag der Ermordung Kennedys ist Archie mit einer Freundin im Bett und verpasst beim Verlieren seiner Jungfräulichkeit den großen Schrecken, der Amerika in diesen Stunden durchrüttelt.

Der Titel "4321" erklärt sich aus der Struktur dieses Romans. Er hat vier Erzählstränge und ist nicht chronologisch erzählt. Mal ist Archie ein Basketballsportler, im Kapitel danach wieder ein Kind, gleich danach ein jugendlicher Liebhaber. Er hat Freunde und Feinde, wovon ausgiebig berichtet wird. Lebenswendungen und Familienumstände sind ihm lästig, halten ihn aber nicht auf, weder als Journalist noch als Schriftsteller. Wir Leser erfahren alles über den jungen Mann, wir können seine Entwicklungsphasen vergleichen, seine Reife erleben, die Gefühle mit- und nachfühlen, die stets zwischen Begeisterung und Trauer flackern. Er hat Sex mit Mädchen, auch mit Männern. Es gibt viele Frauen in seinem Leben, aber in Wahrheit liebt er nur Amy Schneiderman, eine aufgeweckte, jedoch auch komplizierte Person.

Paul Auster hat sich ein Buch abgerungen, das er unbedingt noch wollte. Es ist Siri Hustvedt gewidmet, mit der er seit 35 Jahren verheiratet ist. "Es ist das Buch meines Lebens", hat er dem "Spiegel" gesagt. Es soll bleiben von ihm, der fast 20 Romane verfasst hat, dazu Gedichte, Essays, Übersetzungen, und Filme gedreht (unter anderem mit Jim Jarmusch). "4321" ist ein großer Wurf und äußerst unterhaltsam.

Noch einmal hat Auster zusammengefasst, was die Jahrzehnte seines Lebens bedeutet haben. Die jüdische Identität seiner Familie; das Vaterproblem; Flucht - Auster hat in Paris und anderswo gelebt - und Rückkehr nach Amerika; die Existenz als Künstler; das Austarieren der Möglichkeiten, aber auch das Ende der Selbstverständlichkeiten; der Strom des Lebens, der nicht immer gleichmäßig verläuft. In den vier Archie Fergusons - die sich als Variationen eines Lebens entpuppen - konzentriert Auster das menschliche Leben mit seinen Zufällen, Schicksalen, Dramen. Er wolle, sagt Auster zu seinem Werk, "die Wahrheit über das Leben erzählen". Das erklärt die vielen Ambivalenzen und Kippfiguren in diesem gültigen Roman.

Paul Auster: 4321. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl. Rowohlt, 1264 Seiten, 29,95 €.

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