„Die Geschichte ohne Scheuklappen aufarbeiten“

Die für den Donnerstag geplante Bundestags-Resolution zum „Völkermord“ an den Armeniern ist notwendig - ein PRO-Beitrag von Cem Özdemir.

Am 24. April 1915 begann im Osmanischen Reich die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier und Angehöriger anderer christlichen Minderheiten, darunter Aramäern, Assyrern, Chaldäern und Pontos-Griechen. Wie Bundespräsident Joachim Gauck letztes Jahr sagte: "Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist."

Auch unser Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert sowie Redner aller Fraktionen im Plenum des Deutschen Bundestags nannten die Verbrechen an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten im Osmanischen Reich am 24. April 2015 das, was sie laut der überwältigenden Mehrheit der Historiker waren - einen Völkermord.

Dieser Konsens hat nun endlich Eingang in einen fraktionsübergreifenden Antrag gefunden. Wenn der Bundestag am 2. Juni 2016 diesen Antrag verabschiedet, tut er dies vor allem, weil es sich diesem Völkermord auch um ein Stück deutsche Geschichte handelt. Als enger Verbündeter des Osmanischen Reichs war das Deutsche Reich über die Verbrechen informiert, schritt aber dennoch nicht ein.

Es geht bei diesem Antrag nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wir möchten mit diesem Antrag vielmehr zur Versöhnung aufrufen. Wir wissen vor dem Hintergrund unserer deutschen Erfahrung, wie schwierig es ist, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Wir haben aber auch erfahren, dass eine solche Aufarbeitung eine Gesellschaft nicht schwächt, sondern stärkt. Nur wenn wir bereit sind, offen über vergangenes Unrecht zu sprechen, können Wunden heilen.

Für die türkische Gesellschaft gilt also, was für alle Gesellschaften gilt, in denen es zu Marginalisierung und Gewalt gegenüber einzelnen Gruppen gekommen ist: Ein echtes Miteinander wird erst dann möglich sein, wenn die gemeinsame Geschichte ohne Scheuklappen aufgearbeitet wird. Erst dann wird "Du Armenier" kein Schimpfwort mehr in der Türkei sein. Die heute Lebenden tragen keine Schuld am Völkermord, aber die Verantwortung, ihm würdig zu gedenken und aufzuarbeiten. Und wir sind uns bewusst, dass auch die türkische Geschichte durch schmerzhafte Erfahrungen von Krieg und Vertreibung geprägt ist.

Wir freuen uns, dass die Bereitschaft in der türkischen Gesellschaft für eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung gewachsen ist. Leider ist eine ähnliche Entwicklung in der türkischen und armenischen Politik aktuell nicht zu beobachten. Die Bildung einer Historiker- bzw. Expertenkommission, die der Bundestag 2005 bereits gefordert hatte, ist derzeit nicht absehbar.

Mit unserem Antrag möchten wir uns daher dem längst breiten Konsens der Historiker anschließen, dass die Ereignisse von 1915/1916 einen Völkermord darstellen. Die Konvention der Vereinten Nationen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords verwendet den Begriff des Völkermords übrigens auch im Hinblick auf historische Geschehnisse, die sich ereigneten, bevor die Konvention 1948 in Kraft trat. Nicht nur das - der Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten war Grundlage für die Schaffung dieser Konvention.

Unser Antrag soll vor allem die türkische Zivilgesellschaft unterstützen, die in den vergangenen Jahren so mutig an der Aufarbeitung gearbeitet hat. Die gesellschaftliche Aufarbeitung wird aber nur funktionieren, wenn es auch zu einer politischen Annäherung zwischen der Türkei und Armenien kommt. Die Grenzen müssen wieder geöffnet werden. Mein Traum ist, dass eines Tages Armenien und die Türkei so freundschaftlich verbundene Nachbarn sind wie heute Deutschland, Frankreich und Polen.

Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90 / Die Grünen

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