Zwischen Kleinmut und Größenwahn

Was gab für Sie den Anstoß zu dieser intensiven Beschäftigung mit Jugendkultur?Grimm: Im Zentrum des Buches stehen weniger die verschiedenen Jugendkulturen als vielmehr möglichst authentische Antworten auf die Frage: Wie war es, 1912, 1934, 1951, 1986 oder 2001 jung zu sein? Ich wollte die vergangenen 110 Jahre aus der Sicht und mit den Worten von 12- bis 25-Jährigen erzählen

Was gab für Sie den Anstoß zu dieser intensiven Beschäftigung mit Jugendkultur?

Grimm: Im Zentrum des Buches stehen weniger die verschiedenen Jugendkulturen als vielmehr möglichst authentische Antworten auf die Frage: Wie war es, 1912, 1934, 1951, 1986 oder 2001 jung zu sein? Ich wollte die vergangenen 110 Jahre aus der Sicht und mit den Worten von 12- bis 25-Jährigen erzählen lassen und habe das Buch daher vor allem aus Tagebucheinträgen, Briefen, Aufsätzen und Dokumenten junger Deutscher zusammengestellt - eine Sammlung von Stimmen und Stimmungen, die wie ein privates und ein politisches Geschichtsbuch funktioniert, das ich mir als Schüler immer gewünscht habe.

Wie viel Zeit haben Sie in diese Sammlung gesteckt?

Grimm: Ich habe mich während meines Studiums mit dem Thema Antisemitismus in der Weimarer Republik beschäftigt und damals autobiografische Texte junger deutscher Juden gelesen, die mich sehr beeindruckt haben. Seither fand ich es reizvoll, deutsche Geschichte in Form einer Textcollage aus jugendlichen Stimmen in einem Buch zu erzählen. Die gesamte Arbeit dauerte über zwei Jahre.

Auf welche Ausgrabung sind Sie besonders stolz? Und bei welchen Dokumenten haben Sie selbst am meisten gestaunt über die damalige Jugend?

Grimm: Stolz ist nicht das richtige Wort - die wahre Arbeit leisten ja die wunderbaren Mitarbeiter in Einrichtungen wie dem Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen, dem Archiv Kindheit, Jugend, Biografie in Siegen, dem Archiv für Jugendkulturen in Berlin. Ich brauchte ja nur noch die Schätze heben. Dabei wurde mir rasch klar, dass man eigentlich in keiner Phase von "der" deutschen Jugend sprechen kann, weil die individuellen Geschichten sich selten mit den Klischeevorstellungen decken. Insofern fand ich es erstaunlich, wie vehement etwa am Vorabend des Ersten Weltkriegs viele junge Arbeiter gegen den Krieg gewesen sind - in der Schule hatte ich gelernt, dass alle Deutschen ihrem Kaiser begeistert gefolgt seien. Auch hat mich immer wieder beeindruckt, wie junge Mädchen aus den ihnen zugedachten Rollenmustern ausbrachen, wie sie gegen alle Widerstände studierten oder Kleidung und Frisuren trugen, die ihnen gefielen.

Sie haben Ihr Buch in neun Zeiträume eingeteilt und referieren in den jeweils einführenden Essays relativ wertungsfrei die Rahmenbedingen, unter denen die Jugendlichen zwischen 1900 und 2010 ihren Weg von der Kindheit ins Erwachsenendasein gingen. Welche Generation hat Ihre größte Sympathie?

Grimm: In den Essays wollte ich den jeweiligen politischen, sozialen und kulturellen Hintergrund beschreiben, vor dem die jugendlichen Texte entstanden. Es gab zu jeder Zeit Jugendliche, die mir imponiert haben, und für die Zeit, in die Sie hineingeboren wurden, können Sie ja nichts.

Sie selbst stehen mit dem Geburtsjahr 1963 zwischen den Jugendvertretern, die Sie mit den Überschriften "Die Kinder von Marx und Afri-Cola" und "Punker, Popper, Pazifisten" charakterisiert haben. Wie war Ihre eigene Jugend?

Grimm: Ich denke, dass die meisten Frauen und Männer aus meiner Generation ungleich größere Freiräume hatten als die Jugendlichen heute. Die Orte, an denen ich als Kind gespielt habe, sind heute Parkplätze oder wurden bebaut. Die Zeit, die ich als Schüler hatte - das kommt mir im Nachhinein absolut luxuriös vor, wenn ich sehe, wie etwa Gymnasiasten mit 55-Stunden-Wochen zugeballert werden oder an Spielplätzen mittlerweile mehr beobachtende Erwachsene sitzen als spielende Kinder. Ganz zu schweigen davon, dass es heute in Städten kaum noch Freiflächen gibt, auf denen man den ganzen Mist machen kann, den man so macht, wenn man jung ist. Meine Jugend wurde durch die typische Mischung aus Kleinmut und Größenwahn geprägt, die mir bei der Recherche in vielen Texten begegnet ist, egal ob 1908, 1961 oder 2004.

"Die Welt der Jugend ist klein geworden und groß zugleich" ist der Schlusssatz im Kapitel "Die Suche nach einem Gefühl, das bleibt" über die Jugend zwischen 1990 und heute. Erreicht man die Facebook-Generation mit einem so dicken Buch?

Grimm: Gerade - denn was könnte einem ein "Gefühl, das bleibt" vermitteln, wenn nicht so ein schönes, dickes Buch? Außerdem glaube ich, dass diese besondere Form der Collage aus vielen kurzen und weniger kurzen Texten ideal zu den Lesegewohnheiten der Internet-Generation passt. Das erste Echo von jungen Lesern ist überwältigend positiv, ich bin jedenfalls ganz gerührt.

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