Himmel und Hölle am Werk

Saarbrücken · Das Museum Unterlinden in Colmar beherbergt einen Kunstschatz, der seit Jahrhunderten insbesondere Künstler fasziniert und bis heute enorme Anziehungskraft hat: der Isenheimer Alter von Matthias Grünewald, gemalt 1512 bis 1516. SZ-Mitarbeiter Wolfgang Minaty, der jetzt ein Buch über den Isenheimer Altar veröffentlicht hat, beschreibt, welchen Einfluss Grünewalds Werk auf Kunst, Literatur und Musik hatte.

 Wie im Farbenrausch malte Grünewald die Auferstehung Christi, einen Teil des Isenheimer Altars. Foto: Wikomedia Commons

Wie im Farbenrausch malte Grünewald die Auferstehung Christi, einen Teil des Isenheimer Altars. Foto: Wikomedia Commons

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Ich male, also bin ich. Das könnte Albrecht Dürer gesagt haben. Aber Grünewald? Matthias Grünewald gehörte nicht zu der Sorte von Künstlern, die sich stets neu haben erfinden müssen. Auch Ruhmsucht war ihm fremd. Trotzdem war ihm Resonanz wichtig. Geräuschlose Botschaften passten nicht in sein Repertoire. Aber er musste auch keine Ästhetika verabreichen. Ebensowenig verkaufte er Blechdosen. Er und Warhol hätten sich nichts zu sagen gehabt.

Gegen Ende seines Lebens hat Grünewald Seife verkauft, tatsächlich Seife, er hat sie hergestellt und dann verkauft - als Seifensieder. Ihm waren die Malaufträge ausgegangen. Oder wollte er einfach nicht mehr? Die Zeichen standen auf Sturm. Reformation. Bauernunruhen. Glaubenskämpfe. War Grünewald ein Sympathisant der neuen Religionsrichtung? Plötzlich schien sein Leben festgetackert. Man hat ihn entlassen. Sein Dienstherr, der Erzbischof von Mainz, nach dem Kaiser der zweite Mann im Reich, hat sich 1526 von ihm getrennt. Berufsverbot quasi. Zwei Jahre später war Grünewald tot.

In seinem Nachlass, acht verschlossenen Kisten, fand man neben den üblichen Habseligkeiten auch reformatorische Schriften, darunter "viel scharteken luterich". War Grünewald also doch ein Anhänger Luthers? Womöglich. Was fehlt, sind die Beweise.

Jedenfalls hörte man seither praktisch nichts mehr von dem Maler. Und was war mit seinem Isenheimer Altar, an dem er vier Jahre lang gearbeitet hat, von 1512 bis 1516? Der konnte nur von Dürer gemalt worden sein, so meinte man lange, oder von Baldung Grien. Immerhin haben umsichtige Connaisseure den Altar vor den Wirren der Französischen Revolution nach Colmar im Elsass gerettet.

So richtig wieder entdeckt aber wurde Grünewald erst im 19. Jahrhundert, der Baseler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt hat den Stein losgetreten, 1844. Ein Star war geboren - und zu besichtigen. Wovon die Tourismusbranche prompt Kenntnis nahm. Karl Baedeker gab in seinem Reiseführer 1862 davon Mitteilung: Im Museum von Colmar seien Gemälde von Schongauer, Dürer und Grünewald zu besichtigen, es fahre täglich ein Omnibus nach Breisach und Freiburg.

Vor allem die Malerkollegen fühlten sich angesprochen. Wir erleben die ganze Palette der Gefühle: Bewunderung, Betroffenheit, Entsetzen, bis hin zu wilder Ablehnung. Hans Thoma, der Schwarzwälder Maler und Direktor der Kunsthalle in Karlsruhe, hatte es nicht weit bis zum Isenheimer Altar. Für ihn war es "der größte Schatz an Malerei, den die Deutschen besitzen," schrieb er 1904. Dagegen Paul Klee 1906: "Grünewald erschreckte mich furchtbar." Er war von der psychisch, geradezu triebhaft expressiven Kraft der Farben Grünewalds überfordert, während genau umgekehrt den Kraftmeier Lovis Corinth gerade die "dramatische Kraft" begeisterte.

Dass auch Picasso stimuliert worden war, hätten wir nicht unbedingt erwartet. Es war 1932, als er, nach einem Abstecher von Zürich nach Colmar, 13 Tuschezeichnungen angefertigt hat, alle paraphrasieren sie die Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars. Schwarz. Weiß. Grau. Linien. Striche. Schraffuren. Verrenkungen. Verkrümmungen. Verwüstungen. Wir haben es hier nicht mit Kopien, sondern mit Körpern zu tun, die aus Formen Formeln machen, energische Formeln, solche des Leides und der Qual, fragmentiert bis zur gewaltsamen Verdunkelung oder gar - als Verkehrung - bis hin zur ballettösen Anatomie. Was bleibt, ist Dramatik.

Es überrascht nicht, dass die Wucht, mit der die Bilder Grünewalds uns förmlich umhauen, vor allem von der Farbe herrührt. Als würde sie explodieren, so scheint es. Die Auferstehung Christi ist solch ein einziger Farbenrausch. Der 1937 in die USA emigrierte Wiener Physiker Victor Weisskopf, der an der Konstruktion der amerikanischen Atombombe beteiligt gewesen ist - er sah bei der ersten jemals durchgeführten Kernwaffenexplosion 1945 in der Wüste von Neumexiko ein Orange, ein Leuchtendgelb und ein unheimliches Blau, Farben, die ihn spontan an Grünewalds Bildtafel des auffahrenden Christus erinnert haben.

Als nach 1945 wieder ein ungefährdetes Reisen in Europa möglich war, haben sie sich alle auf den Weg gemacht und sind hin ins Unterlinden-Museum von Colmar: der Filmemacher Werner Herzog, der Maler Jasper Johns, die Lyrikerin Marie Luise Kaschnitz, der Schriftsteller Wolfgang Koeppen, der Komponist Ernst Krenek, der Ethnologe Michel Leiris, der Politiker André Malraux, der Plastiker Henry Moore, der Philosoph Jean-Paul Sartre, der Arzt Albert Schweitzer, der Maschinist Jean Tinguely, natürlich auch Jospeh Beuys und wie sie alle hießen Hans Schabus, Enfant terrible der österreichischen Kunstszene, gibt - als er 2006 in Colmar war - zu Protokoll, was wohl für viele Zeitgenossen gelten kann: "Mir hat es sämtliche Sicherungen durchgeknallt, als ich davor stand. Pop-Art im besten Sinne." Grünewalds Altargemälde kann trösten, es kann niederschmettern - ist man nun gläubig oder Atheist, Künstler oder Normalo. Schon möglich, dass hier Himmel und Hölle am Werk waren.

Wolfgang Minaty: Grünewald im Dialog: 500 Jahre Isenheimer Altar in Kunst, Literatur und Musik. Schnell & Steiner, 168 S., 24,95 Euro. Musée Unterlinden in Colmar ist geöffnet: Mo/Mi & Fr-So: 10-18 Uhr, Do: 10-20 Uhr.

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