Interview August Wilhelm Scheer „Wir leben in spannenden Zeiten“

Saarbrücken · Der jüngst geehrte Saar-Forscher und -Unternehmer spricht über Zukunftstrends und die IT-Ausbildung vor Ort.

 August Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der bedeutendsten Wissenschaftler Deutschlands aufgenommen worden.

August Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der bedeutendsten Wissenschaftler Deutschlands aufgenommen worden.

Foto: Oliver Dietze

Der saarländische IT-Unternehmer August-Wilhelm Scheer ist in die Hall of Fame der herausragendsten deutschen Forscher gewählt worden. Er wird damit für seine Leistungen in der angewandten Informatik und sein Lebenswerk geehrt. Zu den bisher 20 ausgezeichneten Forschern gehören neun Nobelpreisträger. Wir sprachen mit Scheer über die nächsten Zukunfts­trends und die Chancen des Saarlandes, Fachkräfte und Unternehmen anzulocken.

Herr Professor, herzlichen Glückwunsch. Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?

SCHEER Ich sehe sie als Anerkennung für mein Lebenswerk. Und ich freue mich natürlich auch darüber, in einer Hall of Fame mit namhaften anderen Persönlichkeiten, unter ihnen auch mehrere Nobelpreisträger, vertreten zu sein. Die Auszeichnung spornt mich aber auch heute, mit 76 Jahren, an. Denn ich blicke gerne nach vorne. Mich interessieren die Zukunftstrends.

Welchen besonderen Forschungsleistungen verdanken Sie diese Ehre?

SCHEER Sicher hat das von mir entwickelte Aris-Konzept zur Optimierung von Geschäftsprozessen in Unternehmen eine Rolle gespielt. Am Anfang der Entwicklung der Informationstechnologie (IT) hat man nur für einzelne Funktionen, wie Finanzbuchführung oder den Einkauf, isolierte Systeme entwickelt, die dann durch umständliche Datenübertragungen verbunden werden mussten. Erst mit der Unterstützung ganzer betrieblicher Abläufe, von ihrem Beginn bis zum Abschluss quer durch alle beteiligten Funktionen, hat der Siegeszug der IT in Unternehmen begonnen. Dazu habe ich mit Aris eine computergerechte Sprache entwickelt, solche Geschäftsprozesse zu beschreiben und mit Hilfe von Anwendungssoftware zu realisieren. Die von meiner IDS Scheer entwickelte Software wurde zu einem internationalen Erfolg und wird auch noch heute – nach über 25 Jahren und in natürlich weiterentwickelter Form – erfolgreich weltweit vertrieben. Dieses bestätigt die Nachhaltigkeit meiner Forschung.

Was erwartet uns generell zukünftig von der Informationstechnologie?

SCHEER Zum Beispiel eine immer stärkere Betonung der Individualisierung mit Hilfe der Technik und der Künstlichen Intelligenz. Man kann für jeden Einzelnen eine unterschiedliche Lebenswirklichkeit schaffen und ihn individuell unterstützen. Jeder bekommt künftig die Informationen angeboten, die seinen Interessen entsprechen. Auch die medizinische Versorgung wird bei Medikation und Implantaten viel individueller. Aber auch sonstige materielle Produkte wie Möbel können von dem Kunden selbst entworfen und dann individuell zu dem Preis von Massenfertigung produziert werden. Für die weitere Entwicklung der Künstlichen Intelligenz können Erkenntnisse aus der Biologie und der Hirnforschung genutzt werden und auch umgekehrt. Es wird darauf ankommen, daraus nützliche Anwendungen zu schaffen, etwa mehr auf den Einzelnen zugeschnittene Lernformen in der Bildung lebenslang anzubieten oder komfortablere Möglichkeiten, an weltweit vorhandene Informationen heranzukommen. In diesem Prozess müssen aber gleichzeitig Manipulationen ausgeschlossen werden. Wir leben in spannenden Zeiten.

Was kommt noch auf uns zu?

SCHEER Dazu gehört die wesentlich individuellere Medizin. Das heißt zum Beispiel, der Patient bekommt keine Zwölferpackung eines Standard-Medikamentes mehr, sondern das Medikament ist speziell auf ihn ausgerichtet, inklusive der Dosierung und Form der Einnahme. Auch das künstliche Hüftgelenk wird individueller angefertigt und vom 3D-Drucker produziert. Vorher wird noch simuliert, ob es genau passt. Auch in der Autoindustrie erleben wir diese Entwicklung schon. Gegenwärtig können die Hersteller Millionen von Varianten eines bestimmten Autotyps produzieren – jede mit individueller Wahl der Motorstärke und der Innenausstattung und Farbe. Der Mensch möchte eben seinen persönlichen Geschmack ausdrücken. Beim zukünftigen selbstfahrenden Auto und Carsharing wird es dann weniger um die Individualisierung des Produktes als um die Individualisierung der Dienstleistungen gehen: Das anrollende Auto erkennt den Passagier und sofort werden Sitz, Spiegel, Lieblingssender im Radio, bevorzugte Fahrstrecken und Arbeits- sowie Unterhaltungssunterlagen eingestellt sowie wichtige Telefonnummern gespeichert. Die Individualisierung wechselt damit von dem materiellen Produkt zu den Dienstleistungen. Man kann auch sagen: von der Fertigungstechnik zur intelligenten Computersteuerung. Und da wird die spannende Frage sein, ob wir in Deutschland die nötige Kompetenz dazu haben oder die Googles und Apples. Derartige Änderungen werden die nächste Welle der Digitalisierung bestimmen, und hier müssen wir uns in Deutschland anstrengen, um ganz vorne mit dabei zu sein.

Wie kann man wissenschaftliche Forschung und die in den Unternehmen besser zusammenbringen?

SCHEER Beide müssen deutlich besser aufeinander abgestimmt werden. Die akademische Forschung weiß heute häufig nicht, welche Forschung in Unternehmen stattfindet. Der große Unterschied zwischen beiden ist zum Beispiel der mögliche Ressourceneinsatz. Was etwa SAP, Siemens, Google oder Apple heute an Forschern und Geld einsetzen, kann kein Lehrstuhl, nicht einmal eine einzelne Universität. Hinzu kommen noch deren Netzwerke zu den Forschungsinstituten weltweit, die stolz darauf sind, mit den Unternehmen zusammenarbeiten zu dürfen. Es gibt also schon einen riesigen Unterschied von einem Lehrstuhl mit vier Assistenten zu den riesigen Forschungsinstitutionen von Großunternehmen. Deshalb geht aus meiner Sicht das Saarland den richtigen Weg, größere Forschungsinstitute anzusiedeln und miteinander und mit der Universität zu vernetzen, beispielsweise das neue Helmholtz Institut zur Datensicherheit und das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Es ist wichtig, dass wir größere Einheiten mit größeren Ressourcen bekommen. An den öffentlichen Forschungsgeldern scheitert der Fortschritt nicht. Es standen noch nie so viele Forschungsgelder auf europäischer und deutscher Ebene zur Verfügung. Man muss sich aber unternehmerisch darum bemühen und Forschungsanträge erarbeiten. Das gilt für die Hochschulforschung, aber auch für Forschungsprogramme für den Mittelstand. Der darf bei den wichtigen Zukunftstrends nicht außen vor bleiben, zumal wir gerade im Saarland einen starken Mittelstand haben.

Haben wir genug gut ausgebildete Nachwuchskräfte an der Saar für die Forschung an Trends und die Entwicklung neuer Produkte?

SCHEER Es droht ein Engpass. Zudem brauchen wir deutlich mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit an den Hochschulen. Die Fakultätengliederung stammt aus dem Mittelalter. Die Wissenschaftler müssen künftig deutlich stärker fachübergreifend arbeiten. Keine einzelne Disziplin kann die Digitalisierung allein bearbeiten, sondern Techniker, Informatiker, Biologen, Mediziner usw. müssen im Team zusammenarbeiten. Zudem brauchen wir auch neue Ausbildungswege, zum Beispiel in der Autoindustrie weniger klassische Ingenieure sondern mehr Software-Ingenieure. Wir müssen auch aufpassen, dass hervorragende Wissenschaftler, die wir auch an der Saar haben, nicht von internationalen Unternehmen direkt von der Universität weggekauft werden. Alleine in München haben Unternehmen wie Google oder IBM tausende offene Stellen. Das sind amerikanische Firmen, die unseren Markt nutzen und uns dann noch unsere fähigsten IT-Spezialisten wegkaufen, die dann zum Beispiel in Wolfsburg fehlen. Hier müssen wir wettbewerbsfähig werden und für junge Menschen ein Angebot entwickeln, bei dem sie die Welt verändern können.

Was kann die saarländische Antwort darauf sein?

SCHEER Die Saar-Universität wäre gut beraten, ein Konzept zu entwickeln, die Anzahl der Absolventen in IT-nahen Disziplinen zu verdoppeln. Das wäre mit der attraktivste Grund für Unternehmen, sich im Saarland anzusiedeln. Wenn man also in München, Stuttgart, Berlin oder Aachen keine gut ausgebildeten IT-Spezialisten mehr findet, dann sollten Unternehmen die klare Botschaft bekommen: Wenn Du Dich im Saarland engagierst, kannst Du auf diese Spezialisten zurückgreifen.

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