„Wir kennen China nicht“

Mittlerweile im vierten Jahr läuft in Paris das Festival „Écrans de Chine“ mit kritischen unabhängigen Dokumentarfilmen aus China. Eine Auswahl des Jahrgangs 2014 ist am Samstag und Sonntag im Saarbrücker Filmhaus zu sehen. SZ-Redakteur Tobias Kessler hat mit dem Filmemacher Michel Noll gesprochen, der das Festival gegründet hat und bis heute leitet.

 Die Doku „Village Diary“ beobachtet die Menschen eines Dorfs über ein Jahr hinweg. Zu sehen am Sonntag um 18.25 Uhr. Foto: China Dok

Die Doku „Village Diary“ beobachtet die Menschen eines Dorfs über ein Jahr hinweg. Zu sehen am Sonntag um 18.25 Uhr. Foto: China Dok

Foto: China Dok

Sie haben in China Dokumentationen gedreht und mit chinesischen Kollegen viele Filme ko-produziert. Wie schätzen Sie heute die Situation chinesischer Dokumentarfilmer ein?

Noll: In China hat eine Revolution der filmischen Mittel stattgefunden, ein Frühling des Dokumentarfilms. Vor 20 Jahren musste sich ein Dokumentarfilmer eine Kamera besorgen, die damals allerdings alle in Staatsbesitz waren. Er musste einen Antrag stellen, und wenn dem Staat das Thema nicht gepasst hat, gab es keine Kamera und damit keinen Film. Seit 15 Jahren können junge Leute mit eigenen kleinen, bezahlbaren Kameras filmen, mittlerweile sogar mit dem Handy. Sie können Filme drehen, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen.

Was sind die Themen?

Noll: Vor allem die Umweltverschmutzung, der Umgang mit alten Menschen, mit Armut.

Wie ist Ihr Pariser Festival China Dok entstanden, von dem eine Auswahl jetzt bei uns läuft?

Noll: China ist eine Weltmacht - aber wir kennen sie nicht, weil sie lange abgeschottet war. Was sind die Probleme der Menschen? Ihre Träume? Ich war mir sicher, dass das die Menschen hier interessiert. Die offiziellen Filme bieten bloß Propaganda , nur durch die unabhängigen Filme erfährt man wirklich etwas. Wir haben vor drei Jahren einige Filme in einem Programmkino gezeigt - mit großem Erfolg. Inzwischen sind wir im vierten Jahr.

Gehen die Filmemacher , deren Werke Sie zeigen, ein persönliches Risiko ein?

Noll: Nein. Der Staatsapparat weiß, dass man Filme, ähnlich wie Literatur, nicht einfach verbieten kann.

Aber gerade wurde ein Regimekritiker zu lebenslanger Haft verurteilt. Das ermutigt keinen Regisseur zur verstärkten Kritik am Staat.

Noll: Diese Verurteilung ist dennoch ein Einzelfall, auch wenn sie bei uns zu Recht viel Emörung hervorruft. Wir im Westen sind ja aufgewachsen mit der Idee, dass es in China nur Zensur gibt, und nehmen dann Beispiele wie Ai Weiwei , um das zu bestätigen. Natürlich: Den ganz offenen Systemkritkern ergeht es schlecht, sie verlieren ihre Arbeitserlaubnis oder werden inhaftiert - aber das ist eine Minderheit. Die Freiräume sind trotz allem größer, als wir uns das hier vorstellen. Wenn die Regisseure ihre Filme hier zeigen, gewinnen sie in China mehr Spielraum, weil die Regierung sieht, dass deren Filme im Ausland gesehen werden. Das Regime hat Interesse daran, dass die Ablehnung ihm gegenüber abnimmt.

Wie kritisch kann man denn sein und dennoch von der Regierung toleriert werden?

Noll: Kritisch, aber nicht systemkritisch. Man kann etwa die Zerstörung der Umwelt thematisieren, aber nicht eine Revolution fordern oder das System in Frage stellen.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Noll: Es gibt etwa einen sehr harten Dokumentarfilm über die politischen Entscheidungen, die zur gigantischen und sehr umstrittenen Drei-Schluchten-Talsperre geführt haben. Da geht es hart zur Sache. Aber Systemkritik übt der Film nicht. Er darf etwa sagen, dass die Kommunalverwaltung schlecht arbeitet und fordern, dass die übergeordnete Regionalverwaltung da etwas ändern soll. Aber der Kommunismus an sich ist ein Tabu.

Droht da nicht die Selbstzensur?

Noll: Die droht immer, da bin ich nicht überoptimistisch. Ich glaube etwa nicht, dass Filmemacher etwa das Problem der Kommunistischen Partei als Einheitspartei zum Thema machen wollen, weil sie wissen, was dann passiert. Andererseits gibt es kritische Filme wie den über den Hochhausbau in der Stadt Changsha . Die Sicherheitsvorkehrungen waren so schlampig, dass Arbeiter tödlich verunglückt sind. Der Film darüber hat eine große Diskussion ausgelöst - am Ende stand ein neues Gesetz, das mehr Sicherheit garantieren soll.

Wie sehen Sie die Zukunft?

Noll: Der chinesische Dokumentarfilm emanzipiert sich. Die neue Generation unabhängiger Filmemacher wird die einsässige Propaganda vertreiben - langsam, aber sicher.

Zum Thema:

Auf einen BlickAm Samstag läuft ab 16.30 Uhr das Stadtporträt "Homeland Tai-shan". Um 18 Uhr folgt "The Tea Road" über die legendäre Teestraße, die schon Marco Polo nutzte. 20 Uhr: "Forever Runner" über das Leben einer Marathonläuferin - in Anwesenheit des Regisseurs Dajung.Am Sonntag läuft ab 16.30 Uhr "My Home" über Umsiedlungen in Shanghai. Regisseur Cui Yi wird dabei sein. 18.25 Uhr: "Village Diary" über das Leben in einem abgelegenen Dorf; ab 20 Uhr wirft "Cotton" einen Blick auf die chinesische Baumwoll-Industrie. Die Filme laufen im Original mit Untertitel. tok

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