Wer wirft den ersten Stein?

Kinder bedürfen der besonderen gesellschaftlichen Fürsorge, ihre rechtliche Sonderstellung hat Erfahrungs-Richtigkeit. Auch in Belgien dürfen Minderjährige nicht wählen oder Kreditgeschäfte tätigen.

Doch jetzt bürdet ihnen das Brüsseler Parlament die "letzte" Frage auf: die über den eigenen Tod. Das ist absurd und falsch. Aus deutscher Sicht wirkt die gestrige Entscheidung geradezu provokant. Denn hier drehen sich die politischen Räder gerade in die entgegengesetzte Richtung, hin zu Verschärfungen der Sterbehilfe-Regeln. Zwar entschieden die Gerichte bisher eher im Sinne der Sterbewilligen oder ihrer Angehörigen. Doch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) steht überparteilich keineswegs allein mit seinen Verschärfungs-Ideen.

Die Nachrichten aus Belgien dürften Wasser auf seine und die Mühlen aller Sterbehilfe-Kritiker lenken. Kinder als Giftspritzen-Opfer! - damit lässt sich vortrefflich polemisieren. Angesichts des belgischen Beispiels lässt sich tatsächlich nicht von der Hand weisen, dass eine liberale Sterbehilfe zu "Gewöhnungseffekten" führen kann. Wenn eine Gesellschaft akzeptiert, dass das bewusste Herbeiführen des Todes Teil des Soziallebens ist, werden Ausweitungen wie die Kinder-Sterbehilfe als "logische" Weiterentwicklung empfunden. In einem Land, das aktive Sterbehilfe zulässt und also positiv belegt, lässt sich kaum vermitteln, warum ausgerechnet Kindern mehr Leid zugemutet werden soll als Erwachsenen.

Die Belgier tragen mehrheitlich das Parlaments-Votum mit. Sind sie Monster? Offensichtlich haben sie positive Erfahrungen mit dem seit zwölf Jahren geltenden "Euthanasie"-Recht gemacht. Auch der eklatante Anstieg der Fallzahlen alarmiert sie nicht. Demzufolge müsste man die Belgier am besten vor sich selbst schützen - diese Art bevormundender Einstellung gegenüber Befürwortern eines freieren Sterberechts schimmert zunehmend in der hiesigen Debatte auf. Wobei übersehen wird, dass aktive Sterbehilfe mit immensen rechtlichen Auflagen verbunden ist und im Kern lediglich bedeutet, Menschen in Not und ihren Helfern eine straffreie Möglichkeit für einen friedlichen, ärztlich begleiteten Tod zu bieten. Es ist dies eine Chance zur Selbsthilfe, kein Zwang. Vor allem verbindet sich damit keine Absage an den zwingend nötigen Ausbau von Hospizarbeit und Palliativmedizin.

Diese Einsichten werden auch durch den belgischen Sonderweg nicht ausgehebelt. Generell sollte man sich vor der Illusion hüten, durch diese oder jene Gesetzes-Regelung könne man automatisch zu moralischer Sicherheit gelangen. Wer sich trotzdem ganz sicher ist, der werfe den ersten Stein. Er trifft verzweifelt liebende belgische Eltern, die im Namen ihrer Kinder für die Neuregelung kämpften.

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