Wenn türkische Behörden eine Schuldige suchen . . .

Istanbul. Als die türkischen Polizisten kamen, dachte Abdülmecit Öztürk zuerst an Schererien mit dem Handelsunternehmen, das ihn gerade entlassen hatte. Aber es ging um den Tod von sieben Menschen bei einer Explosion mitten in Istanbul. Und die Polizei brauchte Schuldige.So begann 1998 der Leidensweg von Öztürk und auch der von Pinar Selek, einer damals 27-jährigen Soziologiestudentin

Istanbul. Als die türkischen Polizisten kamen, dachte Abdülmecit Öztürk zuerst an Schererien mit dem Handelsunternehmen, das ihn gerade entlassen hatte. Aber es ging um den Tod von sieben Menschen bei einer Explosion mitten in Istanbul. Und die Polizei brauchte Schuldige.So begann 1998 der Leidensweg von Öztürk und auch der von Pinar Selek, einer damals 27-jährigen Soziologiestudentin. Beide sagen, sie hätten nichts mit der Explosion im Gewürzmarkt in der Istanbuler Innenstadt zu tun. Beide wurden von den Behörden als Staatsfeinde eingestuft und gefoltert. Öztürk ist inzwischen ein freier Mann. Doch für Selek, die heute mit einem Pen-Stipendium in Berlin lebt, ist der "Alptraum", wie sie es nennt, trotz zweimaliger Freisprüche in den vergangenen Jahren noch nicht vorüber. Gestern begann in Istanbul in Abwesenheit ein neues Verfahren gegen Selek, weil der Oberste Berufungsgerichtshof der Türkei im November einen Freispruch aufgehoben hatte.

Für Menschrechtler geht es dabei um eine "Kampagne" der obersten Justiz gegen eine Frau, die nach der Beweislage unschuldig ist. Wie hier Beweise zusammengetragen wurden, zeigen die Erinnerungen des ehemaligen Beschuldigten Öztürk. Er zeichnet ein erschreckendes Bild von Brutalität und Willkür in der Türkei. Der aus dem ostanatolischen Agri stammende Öztürk geriet ins Visier der Polizei, nachdem ein als Mitglied der kurdischen PKK-Rebellen verdächtigter Verwandter festgenommen wurde und unter Folter Öztürk als PKK-Mitglied bezeichnete. Auch der Name von Selek, die als Studentin an einer Arbeit über die Kurdenfrage schrieb und mit mehreren Kurden gesprochen hatte, tauchte in dem Folterverhör auf.

Öztürk wurde anschließend mit Stromstößen von der Polizei gequält, wie er jetzt der Zeitung "Radikal" sagte. "Sie ließen mich ein leeres Blatt unterschreiben." Als er das "Geständnis", in dem auch Selek genannt wurde, wenig später widerrief, wurde er erneut in die Mangel genommen, bis er ein neues unterzeichnete. Nach der Folter schrieben die Polizisten einen Bericht - in dem sie sich selbst bescheinigten, keine Gewalt angewendet zu haben.

Seine angebliche Bomben-Komplizin Selek sah Öztürk zum ersten Mal zu Beginn des Mordprozesses vor Gericht. Nach neuneinhalb Jahren im Gefängnis wurde er schließlich freigesprochen. Auch eine Aussage von Öztürks Tante, in der Selek belastet wurde, erwies sich als hinfällig: Vor Gericht stellte sich heraus, dass die Kurdin nicht wusste, was in ihrer auf Türkisch verfassten Aussage stand. Doch obwohl damit gerichtlich feststand, dass Beweise gegen Selek manipuliert worden waren, ging das Verfahren gegen die Soziologin weiter. Mehrere Gutachter erklärten in dem jahrelangen Rechtsstreit, im Gewürzmarkt sei keine Bombe explodiert, sondern ein Gasbehälter.

Wieder einmal steht der Verdacht im Raum, dass für die Justiz der Türkei rechtsstaatliche Grundsätze bei der Verfolgung angeblicher Staatsfeinde keine Rolle spielen. Nicht nur die Verteidigung nimmt an, dass die höchste Justiz trotz fehlender Beweise auf Biegen und Brechen eine Verurteilung Seleks durchsetzen will: Das Istanbuler Schwurgericht bekräftigte gestern den Freispruch für Selek - eine Ohrfeige für den Obersten Berufungsgerichtshof, der vor drei Monaten eine lebenslängliche Haftstrafe gefordert hatte - und womöglich auch die gestrige Entscheidung wieder kassiert.

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