Weltgeschichte ohne Patina

Vor über 50 Jahren machten Protestmärsche das US-Städtchen Selma zum Schauplatz der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Im Gespräch mit SZ-Mitarbeiter Martin Schwickert schlägt Regisseurin Ava DuVernay einen brandaktuellen Bogen von 1965 bis heute.

Warum ist es heute wichtig, einen Film über Martin Luther King zu drehen?

DuVernay: Es war schlicht und einfach höchste Zeit. Die Ereignisse liegen mittlerweile 50 Jahre zurück. Man kann es kaum fassen, aber dies ist überhaupt der erste Kinofilm, der die Figur Martin Luther King ins Zentrum stellt. Und trotzdem hat es sieben Jahre gedauert, bis der Film finanziert und fertiggestellt werden konnte.

Warum zeigen Sie nur einen kleinen Ausschnitt aus Kings Leben?

DuVernay: Das Leben von Martin Luther King hat eine epische Größe, die sich nicht so leicht in einen zweistündigen Film darstellen lässt. Deshalb haben wir uns dazu entschlossen einen kleinen Ausschnitt auszuwählen, der der Bedeutung seines Lebens gerecht wird. Was in diesen drei Monaten in Selma geschah, ist auch in den USA längst nicht jedem bekannt. King war da schon auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er hatte gerade den Nobelpreis bekommen und seine berühmte "I have a Dream”-Rede gehalten. Was tut er danach? Nimmt er eine Position in der Regierung an? Schreibt er ein Buch und wird einfach ein angesehener Intellektueller? Nein, er geht zurück nach Selma, krempelt die Ärmel hoch und leiert eine Wahlrechtskampagne an.

Ihr Film sieht deutlich frischer aus, als man das von einem Biopic gewohnt ist...

DuVernay: Ehrlich gesagt: Ich hasse historische Dramen. Ich liebe Filme, aber gegen Historienschinken bin ich richtiggehend allergisch. Als ich den Regieauftrag für diesen Film bekommen habe, musste ich mir deshalb genau darüber klar werden, was ich an diesem Genre nicht mag. Und das ist vor allem die Patina des Respekts, die durch die historische Distanz entsteht. Darum war es mir wichtig, dass sich das Publikum mitten in diese Zeit hineinversetzt fühlt und emotional mit der Story in Verbindung tritt. Denn das, wofür die Bürgerrechtsbewegung auf die Straße ging - das ist ein bis heute anhaltender Kampf. Übergriffe, wie die auf Rodney King oder Trayvorn Martin, geschehen in den USA jedes Jahr. Gerade deshalb war es mir so wichtig, in diesem Film das Gefühl des unmittelbaren Erlebens herzustellen und die Geschichte in Kontext zur Gegenwart zu bringen.

"Selma" erzählt auch davon, wie sich eine Bürgerrechtsbewegung politischen Einfluss erkämpft und welchen Preis die Aktivisten dafür gezahlt haben...

DuVernay: Wir wollten den Mythos dekonstruieren, dass Martin Luther King das alles im Alleingang gemacht hat. Denn in Wirklichkeit war er einer von vielen Führern in dieser Bewegung. Die Suche nach dem richtigen Weg - das waren keine einsamen Entscheidungen, sondern komplexe Gruppendiskussionen, bei denen viele Bedenken und unterschiedliche Meinungen in die Entscheidung eingeflossen sind. Wir wollen in dem Film den Prozess zeigen, mit dem Fortschritt erreicht wird. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung hat 13 Jahre lang ihre Aktionen vorbereitet und durchgeführt. Die haben sich nicht mal eben zusammengetwittert und sind dann wieder nach Hause gegangen. Diese Menschen haben sich voll eingesetzt und ihr langer, harter Kampf hat unsere Gesellschaft grundlegend verändert. Ohne diese Bewegung würde ich als schwarze Frau heute ganz sicher nicht hier an diesem Tisch sitzen und über meinen Film reden, sondern Ihnen bestenfalls als Kellnerin den Tee servieren.

Ihr Film wurde für zwei Oscars nominiert. Wie wichtig ist Ihnen diese Anerkennung?

DuVernay: Das Problem ist, dass von den mehr als 100 Filmen, die ins Rennen um die Oscarnominierungen gingen, "Selma" der einzige ist, der sich überhaupt mit dem Leben von Schwarzen in den USA beschäftigt. Und das liegt daran, dass in der US-Filmindustrie und auch in der Academy eine sehr kleine Gruppe das Sagen hat. Und die besteht zu 90 Prozent aus Weißen, zu 92 Prozent aus Männern und zu 70 Prozent aus älteren Menschen. Nichts gegen alte, weiße Männer. Ich habe unter meinen Freunden einige alte, weiße Männer, die verstehen, dass sie nicht das Zentrum des Universums sind. Aber die Entscheidungsträger in der Filmindustrie sind sich dessen nicht immer bewusst. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie sich der Diversität unserer Gesellschaft stellen müssen.

"Selma" startet heute in der Camera Zwo in Saarbrücken. Kritik zu diesem und weiteren aktuellen Kinofilmen in unserer Beilage treff.region.

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