Was zu Eis erstarrt, muss schmelzen

Kaia ist fasziniert von dem merkwürdigen Jungen, der an ihrer Schule auftaucht. Er spricht nicht, trägt lumpige Kleider, ist wild und lässt niemanden an sich heran. Außer sie ein bisschen. Sowieso will sich niemand mit ihm abgeben, mit Kaia eigentlich auch nicht.

Denn sie ist verstummt, seit das Unglaubliche passierte, sie ihren Bruder tot in seinem Zimmer fand.

Von einem großen Verlust und seiner schmerzlichen Überwindung erzählt Tom Avery in "Der Schatten meines Bruders". Sachte schildert Avery wie scheinbar abgestorbene Hoffnung wieder zu wachsen beginnt, wie Kaia in dem seltsamen Jungen unbewusst teils ein Spiegelbild ihrer selbst und ihrer Einsamkeit, teils eines ihres toten Bruders Moses findet. Doch Moses redet weiter mit ihr, in ihren Träumen, in ihrer Erinnerung. Sie spürt ihn in ihrer Nähe und das hilft, die Narben heilen zu lassen. Die poetische Sprache ruft Bilder wach, die nachwirken, wahrhaftige Lebensregeln werden ohne grimmigen pädagogischen Impetus von leichter Hand vermittelt.

Kaia führt einen Kampf mit sich selbst und zurück ins Leben, dazu muss sie Moses loslassen. Warum er sich umgebracht hat, wird nie vollständig geklärt, auch das Rätsel um den stummen Jungen nicht. Es bleiben Fragen, wie im wahren Leben. Dieser Roman ist ein stilles Buch über einen Neuanfang, tiefe Verbundenheit und die Kraft der Natur. Nach dem Winter kommt unweigerlich der Frühling, und was zu Eis erstarrt ist, muss schmelzen.

Tom Avery: Der Schatten meines Bruders. Beltz & Gelberg, 145 S., 12,95 Euro.

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