Wahltaktik verhindert Reform des Wahlrechts

Berlin. Die Ausgangslage ist klar: Im Sommer letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht der Politik eine Frist bis zum 30. Juni 2011 zur Änderung des Wahlgesetzes gegeben, zugleich aber in der Urteilsbegründung Korrekturen schon zur kommenden Bundestagswahl am 27. September empfohlen. Seit dem macht vor allem eine Partei Druck: die Grünen. Und eine andere mauert (noch): die Union

Berlin. Die Ausgangslage ist klar: Im Sommer letzten Jahres hat das Bundesverfassungsgericht der Politik eine Frist bis zum 30. Juni 2011 zur Änderung des Wahlgesetzes gegeben, zugleich aber in der Urteilsbegründung Korrekturen schon zur kommenden Bundestagswahl am 27. September empfohlen. Seit dem macht vor allem eine Partei Druck: die Grünen. Und eine andere mauert (noch): die Union. Als mit dem Grundsatz der Wahlgleichheit nicht vereinbar verwarfen die Karlsruher Richter das sogenannte "negative Stimmgewicht". Es bewirkt, dass eine Partei durch die Verrechnung von Überhangmandaten mehr oder weniger Parlamentssitze erhält als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis zusteht. Der Innenausschuss des Bundestages hatte gestern Experten geladen, um über einen Gesetzentwurf der Grünen zu beraten, der das "negative Stimmgewicht" beseitigen soll. Die Grünen wollen etwaige Überhangmandate in einem Bundesland kompensieren, indem dieselbe Partei in einem anderen Bundesland weniger Listenplätze vergeben darf. Das wiederum halten die anderen Parteien für verfassungsrechtlich problematisch. Alle Experten waren sich gestern einig: Bis zur Bundestagswahl ist eine Änderung des Wahlrechts möglich. Laut dem früheren Bundeswahlleiter Johann Hahlen müsste sich das Parlament spätestens bis Ende Juni auf ein gemeinsames Modell verständigen, damit im September danach gewählt werden kann. Aber ist das auch gewollt? "Der Teufel steckt im Detail", warnte Hahlen. Da Karlsruhe eine Frist eingeräumt habe, bestehe keine "verfassungsrechtliche Notwendigkeit für eine Reparatur vor dem September". Aus politischer Sicht spielt aber offenbar vor allem Parteitaktik eine Rolle, ob man für oder gegen Korrekturen ist. Derzeit gibt es im Bundestag 15 Überhangmandate: Neun für die SPD und sechs für die CDU. Nach den Umfragen kann sich vor allem die CDU Hoffnungen machen, bei unverändertem Wahlrecht auch diesmal zahlreiche Überhangmandate zu erringen. In der Union finden sich somit die größten Skeptiker, die folgerichtig lieber für eine umfassende Wahlrechtsreform erst in der kommenden Legislaturperiode plädieren. Neben den Grünen fordert auch die SPD die Abschaffung von Überhangmandaten, allerdings zum Teil ebenfalls aus taktischen Erwägungen: Würde dies doch nach jetzigem Stand der Dinge der Union schaden. Für eine Reform würde es reichen, wenn außer SPD und Grünen die Linken oder die FDP dafür stimmen. Noch haben sich die Sozialdemokraten aber nicht dazu durchgerungen, gegen den Koalitionspartner zu votieren. Und die Liberalen bleiben ebenso betont zurückhaltend - macht doch jedes Überhangmandat der Union Schwarz-Gelb im Bund wahrscheinlicher. Das ist die politische Gemengelage. Nach Ansicht des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst Gottfried Mahrenholz darf aber ohne vorherige Korrektur am 27. September nicht gewählt werden. Sonst würde sich der Gesetzgeber über das Grundgesetz stellen, so Mahrenholz. "Die Wahl ist keine Zirkusveranstaltung", ergänzte Friedrich Pukelsheim von der Uni Augsburg. Und auch der Berliner Verfassungsrechtler Hans Meyer forderte dazu auf, nicht bis nach der Wahl zu warten. Das jetzige Wahlrecht sei "so katastrophal, dass es kein Wahlrecht ist". Es animiere den Wähler quasi zu taktischem Wählen, kritisierte Wilko Zicht von wahlrecht.de, wodurch ein "verzerrtes Wahlergebnis droht". Der Verfassungsjurist Heinrich Lang warnte dagegen wegen der komplizierten Materie vor einem "Schnellschuss". Ergo: Alles ist noch offen - doch viel Zeit für Korrekturen bleibt der Politik nicht mehr.

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