Von ungeheuerlicher Schuld und falscher Sühne

Auch in ihrem neuen Roman „Ladivine“ erweist sich Marie NDiaye als Meisterin eines Erzählens: Peu à peu verliert man sicheren Boden unter den Füßen und erlebt die Verzauberungen und Abgründe, die damit einhergehen.

Ladivine Sylla ist die dunkelhäutige, alleinerziehende Mutter der mit heller Haut geborenen Malinka. Doch die wird sich Clarisse nennen und ihre Mutter verleugnen, um ein anderes Leben zu führen. Ein endgültiger Entschluss, der dazu führt, dass die Tochter die Mutter von ihrem Leben abschneidet, sie aber einmal im Monat heimlich besucht - und dann schweigt. Kein Wort über den Ehemann oder die Enkelin, die beide Clarisse' Mutter für tot halten. Eine ungeheure Grausamkeit und Demütigung, deren sich Clarisse bewusst ist. Sie leidet so sehr darunter, dass sie den Vorsatz fasst, ihrem Mann, ihrer Tochter, allen, mit einer unerschöpflichen Güte zu begegnen, um so ihre Schuld abzutragen.

Dies ist die belastete Ausgangskonstellation, aus der heraus NDiaye von den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern erzählt, aber auch von Paaren, die in der Liebe scheitern. Über drei Generationen wirkt der Verrat von Clarisse an der Mutter weiter.

Der erste Teil des Buches ist aus der Perspektive von Malinka/Clarisse erzählt. Fast ungläubig folgt man der Entstehung ihres grausamen Entschlusses, von dem die Autorin in einer klaren, einfachen Sprache erzählt. Beklemmend sind die Situationen, wenn sie die Mutter besucht, die in den Augen der Tochter immer "eine Dienerin" war. Nie will Clarisse dies sein - und wird doch Opfer ihrer Strategie. Denn die Güte lässt sie zu einer Frau ohne Eigenschaften werden, die selbst niemals Stellung bezieht: So entsteht eine eigentümliche Kälte, hinter der sie für ihren Mann Richard und ihrer Tochter, die sie nach ihrer Mutter Ladivine nennt, unfassbar wird. Beide werden sie verlassen - und wiederum Schuld auf sich laden.

Dann springt das Buch in die Perspektive der erwachsenen Ladivine, der Tochter von Clarisse. Jetzt kreist das Erzählen um sie und ihre Familie, ihre Beziehung zu Mann und Kindern. Und im dritten Teil erfahren wir die Sicht Richards.

Entscheidend ist, wie NDiaye ihre Motive umkreist: Wie und warum lädt man sich Schuld auf, (wie) kann man sie abtragen? Sie zeigt, zu welchen Verzerrungen im Verhalten der Menschen Schuldgefühle führen und wie diese den Blick auf die anderen beeinflussen. Und so knüpft die Autorin an ein weiteres ihrer Themen an: Die Unmöglichkeit, das eigene Selbst zu bestimmen - und das Unvermögen, den anderen zu (er-)kennen.

Und NDiaye geht noch weiter: Ihre Figuren wissen manchmal nicht, ob ihr Leben tatsächlich geschieht oder ob sie es träumen - für ihre Schöpferin sind beide Ebenen gleich bedeutsam. Und so hat ihr Erzählen von Beginn an einen doppelten Boden, greift sich das fantastische Moment immer mehr Raum. Insbesondere in der Gestalt eines Hundes, in die die Frauen schlüpfen, um die, die sie lieben, aber verlassen müssen, dennoch zu beschützen.

Marie NDiaye: Ladivine. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, 445 Seiten, 22,95 Euro.

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